Die Türkei nach dem Putschversuch Türkei-Expertin Kirchner: "Die Türkei ist extrem polarisiert"
Berlin. Politikwissenschaftlerin Kirchner über den Ausnahmezustand und Europas Dilemma Mit der Ausrufung des Ausnahmezustandes hat der türkische Präsident Erdogan seine harte Reaktion auf den versuchten Militärputsch noch weiter zugespitzt.
Magdalena Kirchner, Türkei-Expertin der Berliner "Stiftung Wissenschaft und Politik", sprach mit unserem Hauptstadtkorrespondenten Werner Kolhoff über die Lage.
F: Entlassungen, Massenverhaftungen und jetzt der Ausnahmezustand. Ist die Türkei auf dem Weg in eine totalitäre Diktatur?
A.: Die Ausrufung des Ausnahmezustandes ist gemäß der türkischen Verfassung abgelaufen, dennoch überschlagen sich die Ereignisse im Land derzeit. Auch wenn schon nach der Entscheidung, den nationalen Sicherheitsrat zeitgleich zur Kabinettssitzung einzuberufen, vielen klar war, dass er ausgerufen werden würde, ist noch nicht absehbar, wie die Regierung ihn auslegen wird. Sicher ist, der Spielraum der Opposition wird sich wohl stark verringern.
F.: Kann man überhaupt noch von einem Rechtsstaat in der Türkei sprechen, wenn so viele Richter entlassen werden?
A.: Wenn die Gewaltenteilung ein Maßstab für Rechtsstaat ist, dann hat die Türkei schon länger ein großes Problem. Schon nach dem Korruptionsskandal 2013 wurden hunderte Richter, Polizisten und Staatsanwälte entlassen. Der Ausnahmezustand schränkt nun auch die parlamentarischen Kontrollmöglichkeiten weiter ein, das ist natürlich eine besorgniserregende Entwicklung.
F.: Auch Hass und Gewalt nehmen zu, vor allem seitens der AKP-Anhänger gegen vermeintliche Gülen-Anhänger. Droht hier ein Bürgerkrieg?
A.: So weit würde ich nicht gehen, aber in sozialen Medien, und auch auf der Straße gibt es einen Anstieg von Hass-Nachrichten, Morddrohungen und eben auch körperlicher Gewalt, nicht nur gegen tatsächliche und vermeintliche Anhänger der Gülen-Bewegung, sondern auch gegen Sozialdemokraten, Linke und Angehörige der alevitischen Minderheit als mutmaßliche Unterstützer des Putschversuchs. Derartige Vorfälle häufen sich mittlerweile auch in deutschen und anderen europäischen Städten.
F.: Wird sich auch der Krieg gegen die Kurden in diesem Zusammenhang verschärfen?
A.: Das ist zurzeit noch nicht absehbar, denn bisher ist die PKK nicht mit dem Putsch in Verbindung gebracht worden. Im Gegenteil herrscht derzeit zwischen Armeeführung und Regierung ein Konsens darüber, dass das Kurdenproblem militärisch gelöst werden kann und soll. Da sich kurdische Politiker und die Zivilgesellschaft aber auch klar gegen den Putsch gestellt haben, ist hier meiner Meinung nach eine Chance auf Versöhnung vergeben worden, dadurch, dass Erdogan und die AKP den Erfolg der Putschnacht monopolisieren.
F.: Erdogan festigt jetzt seine Macht auf allen Ebenen. Wird das je mit friedlichen Mitteln zurückgedrängt werden können?
A.: Ich bin sehr pessimistisch, ob ein demokratischer und friedlicher Machtwechsel in der Türkei überhaupt noch möglich ist. Die Gesellschaft ist extrem polarisiert, die Spielräume der Opposition aber auch für wirtschaftliches Wachstum werden immer enger. Auch mit einem Ausreiseverbot für Wissenschaftler kann man den zu erwartenden Exodus der Bildungseliten wohl nur aufschieben.
F.: Verhält sich Europa hart genug gegen Erdogan?
A.: Man spürt ja deutlich das selbst erzeugte Dilemma, in dem sich Europa befindet. Mit dem Flüchtlingsdeal hat man sich einer schon damals nicht mehr wirklich rechtsstaatlichen Türkei angebiedert - weil man es nicht geschafft hat, das Problem gemeinsam und solidarisch zu lösen. Nun befindet sich Europa in einer Abhängigkeit, die es stumm macht. Auch die Drohung, die Wiedereinführung der Todesstrafe beende man die Beitrittsverhandlungen, muss für viele Türkei zynisch klingen, da auch ihre Abschaffung vor über zehn Jahren das Land nicht zum Erfolg geführt hat. Von diesem Gefühl der Ablehnung profitiert vor allem die AKP.
F.: Also: Was soll Europa tun?
A.: Wie immer gilt es, den Drahtseilakt zwischen Kritik an der Regierung und Austausch mit der Zivilgesellschaft zu wagen. Ehrliche Empathie mit den Opfern des Putsches und eine weitsichtige Analyse der dramatischen Folgen, wenn er gelungen wäre, ist auf jeden Fall angebracht, wenn man nicht den Eindruck erwecken möchte, Europa hätte lieber die Militärs an der Macht gehabt, als eine noch so schwierige AKP-Regierung.