Veruntreuung: Der Hofstaat des Jacques Chirac
Der Altpräsident muss sich vor Gericht verantworten.
Paris. Die Franzosen haben in diesen Tagen reichlich Anlass, sich bei der Zeitungslektüre verwundert die Augen zu reiben: Mit Jacques Chirac (76) muss sich zum ersten Mal ein ehemaliger Staatschef der V. Republik vor Gericht verantworten. Die Anklagepunkte lauten auf Veruntreuung öffentlicher Gelder und Vertrauensmissbrauch.
Neu sind die Vorwürfe allerdings nicht. Im Gegenteil. Die Affäre Chirac ist schon seit 1999 bekannt, der Sachverhalt selbst ist sogar weitaus älteren Datums. Während seiner langen Amtszeit als Pariser Bürgermeister (1977 bis 1995) und Chef der gaullistischen Partei RPR soll Jacques Chirac im Rathaus ganz im Stile eines Patriarchen ein weit verzweigtes, undurchsichtiges System von Scheinarbeitsverhältnissen errichtet haben.
Im offiziellen Justiz-Jargon ist von "verschränkter Kostenübernahme" die Rede. Nur weil er zwischenzeitlich zum Staatschef (1995 bis 2007) aufgestiegen war und das prachtvolle Neorenaissance-Rathaus mit dem noch prächtigeren Élysée-Palast getauscht hat, konnte er sich den peinlichen Nachstellungen der Justiz entziehen. Doch diese behielt im Spiel mit der Zeit die Oberhand. Denn kaum war die post-präsidiale Immunität letzte Woche abgelaufen, präsentierte die resolute Untersuchungsrichterin Xavière Simeoni die Anklageschrift.
Danach soll es wegen 21Schein-Jobs zur Anklage kommen. Die ursprüngliche Liste mit so genannten "Sonderbeauftragten" führte sogar 699 Namen auf, weshalb sich die linke Zeitung "Libération" über die "galaxie chiraquienne" lustig macht. Ob sie für die Pariser Stadtverwaltung arbeiteten oder in Wirklichkeit Chauffeure gaullistischer Senatoren, Assistenten von RPR-Abgeordneten oder nur gut gesponserte Profi-Sportler waren, muss nun das Gericht klären. Belastungszeugen jedenfalls schwören nach einem Bericht der "Libération", dass Etliche der Genannten "nie den Fuß über die Schwelle des Rathauses gesetzt haben".
Und was sagt der prominente Angeklagte zu alledem? Bislang nichts. Gemäß den strengen Gepflogenheiten der mitunter höfisch strukturierten politischen Klasse ließ Chirac die Anwürfe durch Sprecher und Anwälte ins Reich der Fabel verweisen: Der Ex-Präsident werde beweisen, dass es keine Schein-Angestellten gegeben habe.
Dass Jacques Chirac über den drohenden Prozess in Ungnade fallen könnte, ist wiederum nicht anzunehmen. Zwar begrüßen fast 70 Prozent der Franzosen das Vorgehen der Justiz, trotzdem liegen Chiracs Sympathiewerte im Volke seit Monaten auf höchstem Niveau. "Père de la Republique", Vater der Republik, nennen sie den Polit-Rentner.
Das Merkwürdige: Obwohl er wie ein Adeliger mehr als die Hälfte seines Lebens in Palästen des Staates verbracht hat und offenbar nicht die geringste Ahnung hat, was man für einen 20-Euro-Schein kaufen kann, gilt er als ein sehr volksnaher Typ - als einer, mit dem man im Bistro um die Ecke sogar ein Gläschen Rotwein trinken könnte.