Vor 75 Jahren: "Unternehmen Barbarossa" Völkermord: Sprechen und Schweigen über deutsche Schuld

Am 2. Juni beschäftigt sich der Deutsche Bundestag erneut mit dem osmanischen Völkermord an den Armeniern und der deutschen Mitschuld. Zum 75. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, der von Anfang an als Völkermord geplant war, schweigt das offizielle Deutschland dagegen.

Berlin. Bundespräsident Joachim Gauck und Daniela Schadt, so teilt es das Bundespräsidialamt mit, reisen vom 20. bis 24. Juni zu Staatsbesuchen nach Rumänien, Bulgarien und Slowenien. Die Besuche stünden im Zeichen der guten bilateralen Beziehungen Deutschlands zu den drei Ländern, heißt es. In Rumänien wolle Gauck „das Thema europäischer Zusammenhalt aufgreifen“, in Bulgarien an einer „Diskussionsveranstaltung zur Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit“ und in Slowenien an den Feierlichkeiten zum 25. Jahrestag der Unabhängigkeit teilnehmen.

Foto: Armia Krajowa



Man muss das wirklich so drastisch sagen, wie der Historiker Götz Aly es jüngst in der „Berliner Zeitung“ formuliert hat: In politisch angespannten Zeiten, in denen es auf symbolische Akte ankäme, demonstriert das offizielle Deutschland am 22. Juni „geschichtspolitische Ignoranz und bodenlose Rohheit“. Denn wie der Bundespräsident, so planen auch die Bundeskanzlerin und der Deutsche Bundestag für den 75. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion mehr oder weniger — nichts. Es gibt keine offiziellen Gedenkveranstaltungen. Es wird kein deutscher Offizieller auf dem Piskarjowskoje-Friedhof in Petersburg das Haupt vor den dort begrabenen 470.000 Hungertoten der deutschen Belagerung senken.

In den Jahrzehnten des Kalten Krieges war es in Westdeutschland nahezu unmöglich, gegenüber dem alten und aktuellen Gegner Russland von deutscher Schuld zu sprechen. In den Zeiten der Konfrontation mit dem Ostblock sahen die Deutschen sich rückblickend überwiegend nicht als Täter, sondern als Opfer des Krieges, als die Besiegten von Stalingrad, als die in den sowjetischen Gulags Versklavten, als die von der Roten Armee Vertriebenen und Vergewaltigten.

Es gelang Richard von Weizsäcker 1985 als erstem Bundespräsidenten, die deutsche Niederlage und den 8. Mai 1945 als Befreiung vom Nationalsozialismus zu würdigen. 31 Jahre später darf man von seinem Nachfolger erwarten, sowohl über der eigenen Biografie als auch über aktuellen politischen Problemen zu stehen und einen angemessenen Umgang mit deutscher Schuld zu formulieren.



Der 22. Juni 1941 war der Auftakt zu einem rassistischen Vernichtungskrieg, der sich von allen anderen deutschen Feldzügen des Zweiten Weltkriegs grundsätzlich unterschied. Vom ersten Tag an war das „Unternehmen Barbarossa“ gedacht und ausgeführt als militärischer Mordplan gegen den „jüdischen Bolschewismus“ und zur Eroberung von „Lebensraum“.

Vom ersten Tag an kalkulierte die deutsche Planung mit Ressourcen zur Ausrottung der jüdischen Bevölkerung und der sowjetischen Intelligenz hinter der Front. Vom ersten Tag an rechnete das deutsche Oberkommando den Hungertod von Millionen Zivilisten zur Versorgung der deutschen Armee mit ein. Vom ersten Tag an sah diese Kriegsplanung vor, deutsche Soldaten in Masse zu Mittätern und Mitschuldigen eines Verbrechens zu machen.



Der als Verbrechen geplante und ausgeführte deutsche Überfall auf die Sowjetunion kostete 26 Millionen Menschen das Leben; zwei Drittel davon Zivilisten. Nicht, weil es kriegsentscheidend gewesen wäre, sondern weil die Vernichtung der „Untermenschen“ beabsichtigt war. Die Nazis ließen 3,3 von 5,7 Millionen gefangenen russischen Soldaten planmäßig verhungern. Fast 1800 Städte und 70 000 Dörfer wurden zerstört.

In Leningrad verhungerte nahezu eine Million Menschen; nicht als bedauerliche Folge, sondern als Ziel der Belagerung. Die deutschen Landser, auf deren Koppel-Schlössern „Gott mit uns“ stand, brannten fast 2800 Kirchen nieder, nebenbei zerstörten sie 4000 Bibliotheken und mehr als 400 Museen. Das alles ist dem offiziellen Deutschland in den kommenden drei Wochen also kein angemessenes Gedenken wert. Kein Innehalten, keine Geste, nichts.



Dazu steht in merkwürdigem Kontrast das Gewese, das der deutsche Bundestag mit den Stimmen von CDU, CSU, SPD und Grünen am 2. Juni darum machen wird, den osmanischen Völkermord an den Armeniern erst ein Jahr nach dem 100. Jahrestag in einer Resolution mit dem angestrengten Titel „Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten in den Jahren 1915 und 1916” auch tatsächlich „Völkermord“ zu nennen.

Folgt man den Ausführungen der Antragsteller, so halten sie dies deshalb für ein mutiges Bekenntnis, weil es den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und seine Anhänger auf die Palme bringt. Um es klar zu sagen: Das ist weder ein Bekenntnis noch ist es mutig. Denn erstens sind die Antragsteller der Resolution nicht bereit, aus ihrem Beschluss Konsequenzen zu ziehen. Sie planen nicht, die Verstrickung des Deutschen Reichs in diesen Völkermord aufzuarbeiten. Und sie sind zweitens nicht bereit, ihrer Rhetorik auch Recht folgen zu lassen und die Leugnung dieses Völkermords — analog zur Leugnung des Holocaust — unter Strafe zu stellen.

Sie müssten sich dann, spätestens nach den Gegen-Demonstrationen türkischer Verbände vom vergangenen Samstag, mit der unangenehmen Tatsache beschäftigen, dass Alice Schwarzer offenkundig Recht hat: Ditib, die staatlich gesteuerte Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V., die hierzulande die meisten Imame stellt und bezahlt, ist keine harmlose religiöse Gemeinschaft, sondern der außenpolitische Arm Erdogans und seiner Partei AKP in Deutschland. Ditib propagiert einen Scharia-Islam, verweigert sich dem vorbehaltslosen Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung unseres Landes und verhält sich fortgesetzt integrationsfeindlich.

Wäre die Armenien-Resolution etwas anderes als politische Rhetorik, beschäftigte sich das Parlament mit einem Organisations- und Betätigungsverbot für Ditib und andere von Erdogan gesteuerte Verbände. Das hat — fast möchte man sagen: natürlich — aber keine der im Bundestag vertretenen Parteien ernsthaft vor.


<7br> Ob die neuerliche Armenien-Resolution des Bundestags tatsächlich den Armeniern nützt (100.000 sollen sich illegal in der Türkei aufhalten), darf man ernsthaft anzweifeln. Vor allem aber steht der parlamentarische Aufwand des 2. Juni um den Begriff „Völkermord“ im Widerspruch zu der Wurstigkeit, mit der das offizielle Deutschland am 22. Juni den von seinen Rechtsvorgängern an den Völkern der früheren Sowjetunion geplanten und ausgeführten Völkermord übergeht.

In solchen Dimensionen historischer Verantwortung geht es nicht an, dass die Bundeskanzlerin Gedenken oder Ignoranz vom Nützlichkeitsgrad und der Intensität bilateraler Beziehungen abhängig macht. Der deutsch-französische Staatsakt des vergangenen Wochenendes 100 Jahre nach der Schlacht von Verdun auf der einen Seite und das Fehlen jeder Angemessenheit zum 22. Juni vertragen sich nicht miteinander.



Der Bundespräsident ist dasjenige Verfassungsorgan, das die Einheit der Bundesrepublik Deutschland verkörpert und nach innen und außen repräsentiert. Seine damit einhergehende Unabhängigkeit macht es erst recht zur Aufgabe Gaucks, in dieser Frage das Wort zu ergreifen.

Vielleicht muss man es daher drastischer sagen als Götz Aly: Ein deutscher Bundespräsident, der sich seinem Amt derart vor der Geschichte verweigert, nachdem er schon 2015 keinen angemessenen Umgang mit dem 75. Jahrestag des Kriegsendes und dem russischen Beitrag zum Sieg über die Barbarei der Nazis fand, sollte nicht für eine zweite Amtszeit kandidieren. Dass dem deutschen Staatsoberhaupt, das sich so gerne reden hört, ausgerechnet an diesem Tag absichtsvoll die Stimme versagt, ist ein sehr bedauerlicher Grund, sich Joachim Gaucks zu schämen.