Bundestagswahl 2017 Wagenknecht im Wahlkampf: Sahra und ihre doppelte Wahrheit
Die Spitzenkandidatin der Linken zieht mit der alten Erzählung „Ihr da oben, wir da unten“ durch das Land — und entwirft ein düsteres Bild.
Düsseldorf. „Umbruch, Krieg und Surrealismus“. Nein, das ist nicht der Slogan der Linken, sondern der Titel der laufenden Ausstellung in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen. Die Linke setzt auf „Sozial. Gerecht. Frieden. Für alle“. Drinnen im Museum geht es um Ägypten. Draußen auf dem Düsseldorfer Grabbeplatz um Deutschland. Um das Deutschland derjenigen, die sich im Strom der wirtschaftlichen Erfolgsmeldungen nicht wiederfinden.
Wahlkampfauftritte sind auch Milieustudien. Vier Tage zuvor hatte sich in der Landeshauptstadt noch das moderne Bürgertum um die Grünen-Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt geschart, das sich um die Zukunft der Kinder sorgt, um gesunde Luft und eine ausgewogene Ernährung. Jetzt blickt Sahra Wagenknecht von der Bühne auf Menschen, die sich vor allem um ein ausreichendes Einkommen sorgen und ein bezahlbares Dach über dem Kopf. „Linke Apo sucht freies WG-Zimmer“, steht auf der Pappe, mit der ein Mann durchs Publikum zieht. Hier stehen die Wähler, die die Agenda-SPD verloren hat. Die mit weltläufiger Liberalität nichts am Hut und für politischen Pragmatismus kein Verständnis haben.
Wer je einen Warnstreik der IG Metall besucht hat, durchlebt bei der Dramaturgie des Auftritts Déjà-vu-Momente in Serie. Es gibt Musik zum Einheizen (die rotzig-punkige Straßensängerin Cynthia Nickschas und Band). Es gibt Stimmen von der Basis (Obdachlosen-Initiative, Asta, Initiative „Reichtum umverteilen“, der lokale Bundestagskandidat). Es gibt mit Parteichef und Gewerkschaftssekretär Bernd Riexinger einen ersten rhetorischen Donnerhall („Lasst uns die Seuche der prekären Arbeit bekämpfen!“). Und es gibt Plakate umsonst: „Bitte hochhalten, wenn Sahra spricht“, liefert die Ordnerin die Gebrauchsanweisung beim Verteilen gleich mit.
Die Sache mit den Plakaten („Gerecht“, „Sozial“, „Frieden“, „Ergreif Partei für eine bessere Zukunft“) ist noch nicht so recht zu Ende gedacht. Hält man sie nun Richtung Sahra für die Fernsehbilder von der Bühne, Richtung Hinterkopf für das Publikum — oder Richtung Himmel gegen den einsetzenden Regen?
Und auch die Sache mit dem Vorredner hätte optimaler verlaufen können. Irgendwie scheint es Wagenknecht schon geahnt zu haben: „Es kann sein, dass sich das ein oder andere Argument wiederholt“, warnt sie vor. Aber in einer Welt, in der so viel gelogen werde, schade es auch nicht, wenn die Wahrheit doppelt gesagt werde. Ob sie dabei an jenen Jackenträger im Publikum gedacht hat, auf dessen Rücken zu lesen ist: „Die Herrschaft des Finanzfaschismus basiert auf der (fast) perfekten Gehirnwäsche durch Staats- und Konzernmedien“?
Wagenknechts Zielgruppe sind die Menschen, die „trotz Arbeit unter der Armutsgrenze leben“, die Alten, die „um ihre Lebensleistung betrogen werden“. Sie träumt von einem „Land ohne Niedriglöhne und Altersarmut, in dem Politiker sich nicht von den Konzernen kaufen lassen“. Und sie benennt als Kronzeugen das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), das Anfang dieses Jahres festgestellt hat, dass das real verfügbare Einkommen der ärmsten 40 Prozent der Bevölkerung in Deutschland seit 1999 zurückgegangen ist.
Das ist das Fundament für die alte Engelmann/Wallraff-Erzählung „Ihr da oben, wir da unten“. Der Mindestlohn wird zum „Armutslohn“ und „die Agenda 2010 hat keine Fehler, sie ist der Fehler“. Und das Geld, das unten fehlt, „holen wir bei denen, die den Schotter haben: bei den Multimillionären und den großen Konzernen“. Höhere Spitzensteuersätze, Vermögenssteuer und schärfere Einschränkungen beim Vererben — nicht das sei Enteignung, „sondern die Existenz von Millionenvermögen beruht auf Enteignung“. Und dann gibt es da noch diese andere Quelle für die Finanzierung aller sozialen Erfordernisse: den Rüstungsetat.
Warum das alles bisher nicht so klappt, liegt für die Spitzen- und Direktkandidatin im Düsseldorfer Süden auf der Hand: Es sind die „Strukturen, mit denen das große Geld sich in diesem Land Politik kauft“. Gemeint sind die Parteispenden.
Nach einer Dreiviertelstunde hat Sahra Wagenknecht ihren Streifzug durch Deutschlands Schattenseiten beendet und stellt sich der Selfie-Traube neben der Bühne. In vielem habe sie recht, befindet ein 53-Jähriger aus Düsseldorf, der lieber anonym bleiben will und bis zum Ende ausgeharrt hat. „Ich bin selbst betroffen.“ Es gebe im Land eben eine ziemliche soziale Ungerechtigkeit. Vor drei Jahren sei er arbeitslos geworden und habe keinen Job mehr gefunden. Heute ist er Leiharbeiter, mit weniger Lohn, weniger Urlaub, unbezahlten Überstunden auf dem Zeitkonto. „Ich werde auf jeden Fall die Linke wählen.“ Vor Kurzem ist er eingetreten.