Jahreswechsel War das Merkels letzte Neujahrs-<br>ansprache?

Die Umfragewerte der Kanzlerin sinken, in Hinterzimmern des politischen Berlins wird über das Ende ihrer Ära orakelt — zu früh. Eine Analyse.

Angela Merkel bei ihrer Neujahrsansprache 2013.

Foto: David Gannon

Berlin. In knapp einem Jahr, am 31. Dezember 2018, wird die Hauptausgabe der Tagesschau um 20.10 Uhr beendet werden. Die letzten fünf Minuten des Flaggschiffs der ARD-Nachrichten werden an diesem Abend der Neujahrsansprache der Bundeskanzlerin gehören — und die wird unverändert Angela Merkel heißen, allen derzeitigen (und im Übrigen berechtigten) Unkenrufen zum Trotz.

Das ist keine allzu gewagte Prognose: Ja, die Umfragewerte der Bundeskanzlerin und Vorsitzenden der CDU sind auf dem schlechtesten Stand seit Jahren und nahezu jeder Zweite (47 Prozent) wünscht sich, dass Merkel vor 2021 abtritt. Im eigenen Lager sind es jedoch nur 17 Prozent. Ja, die Ära Merkel geht zu Ende, wie einige „Beobachter“ scharfsinnig bemerken, zumindest sei der Zenit überschritten — was soll denn bitte nach zwölf Jahren, 100 Bundestags-Reden und 1724 von ihren Regierungen verabschiedeten Gesetzen im politischen Leben einer 63-Jährigen wohl sonst kommen?

Das Frühjahr 2018 wird mit der Bildung einer CDU/SPD-Regierung, einer schwarz-grünen Minderheitsregierung oder aber Neuwahlen wohl die letzte Amtszeit Merkels einläuten, aber ihre Kanzlerschaft wird nicht 2018 enden. Das mögen sich in der FDP zwar Christian Lindner und Wolfgang Kubicki lautstark in der Absicht wünschen, derartige Frechheiten würden die eigene enttäuschte Anhängerschaft davon ablenken, dass es nach dem absichtlichen Jamaika-Scheitern niemals eine Regierung mit Christian Lindner und Wolfgang Kubicki als Ministern geben wird, so lange die Kanzlerin Merkel heißt.

Es gibt mit oder ohne Neuwahlen 2018 kein realistisches politisches Szenario, in dem die CDU/CSU nicht die Regierungschefin stellt. Und das wird nach Lage der Dinge auf jeden Fall Angela Merkel sein, weil schlicht (noch) niemand anders bereit steht; weder zur Amtsübernahme, noch zur Palastrevolution. Die Frage ist, wie Angela Merkel ihre Nachfolge als CDU-Vorsitzende regelt. Alles in allem spricht jedoch wenig dafür, dass Angela Merkel bereits an diesem Sonntag um 20.10 Uhr in der ARD ihre letzte Neujahrsansprache hält.

Auf den Inhalt darf man durchaus gespannt sein. Vor einem Jahr stellte Merkel den islamistischen Terrorismus als ohne Zweifel schwerste Prüfung Deutschlands in den Mittelpunkt ihrer fünfminütigen Rede. Damals, am Silvesterabend 2016, war der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche in Berlin gerade wenige Tage her. „Zusammenhalt, Offenheit, unsere Demokratie und eine starke Wirtschaft, die dem Wohl aller dient: Das ist es, was mich für unsere Zukunft hier in Deutschland auch am Ende eines schweren Jahres zuversichtlich sein lässt“, so Merkels zentrale Aussage vor einem Jahr. Mit keinem Wort ging Angela Merkel Ende 2016 auf den wirklichen Wendepunkt der Flüchtlingsdebatte ein, die sexuellen Übergriffe in Köln und anderswo in der Silvesternacht 2015/16.

Das war — in der Kombination mit Merkels einsamer Flüchtlingsentscheidung im September des Jahres 2015 — ein grober kommunikativer Fehler, der bis heute nachhallt. Die Deutschen sind laut einer aktuellen Umfrage mehrheitlich nicht damit einverstanden, dass Flüchtlinge ihre Familien nach Deutschland holen dürfen: 55 Prozent betrachten einen anhaltenden Zuzug von Flüchtlingen als Risiko (Allensbach im Auftrag der „Wirtschaftswoche“), nur 23 Prozent stimmen dem Familiennachzug zu. Die Skepsis ist damit seit dem Sommer noch einmal deutlich gewachsen, auch unter SPD-Anhängern. Schon lange gibt es Umfragemehrheiten für eine Obergrenze bei der Aufnahme sowie für Strafen, Leistungsbeschränkungen, Abschiebungen und härtere Asylrechtsauslegungen — all das findet Zustimmungen von bis zu 88 Prozent der Bevölkerung.

Der Historiker Heinrich August Winkler hat der Kanzlerin in einer wenig optimistischen Analyse („Zerbricht der Westen?“ C. H. Beck, Oktober 2017, 493 Seiten, 24,95 Euro) vorgehalten, schon im Sommer 2015 habe sich vorhersehen lassen, „dass anhaltend hohe Flüchtlingszahlen die deutsche Gesellschaft politisch polarisieren und dezidiert rechten Kräften wie der AfD neue Anhänger zuführen würden“. Leicht zu prognostizieren seien auch die Probleme gewesen, die Deutschland mit der Integration von ganz überwiegend muslimischen Migranten haben würde: „Diese kamen größtenteils aus patriarchalisch, frauenfeindlich, homophob und autoritär geprägten Gesellschaften, in denen Hass auf Andersgläubige und vor allem auf Juden weit verbreitet war“, so Winkler.

Doch das war am 31. Dezember 2015 kein Thema in Merkels Neujahrsansprache. Stattdessen erklärte die Kanzlerin vor zwei Jahren: „Ich bin überzeugt: Richtig angepackt ist auch die heutige große Aufgabe des Zuzugs und der Integration so vieler Menschen eine Chance von morgen. Denn wir haben ein großartiges bürgerschaftliches Engagement und ein umfassendes Konzept politischer Maßnahmen.“ Und die Kanzlerin versprach: „Unsere Werte, unsere Traditionen, unser Rechtsverständnis, unsere Sprache, unsere Gesetze, unsere Regeln — sie tragen unsere Gesellschaft, und sie sind Grundvoraussetzung für ein gutes, ein von gegenseitigem Respekt geprägtes Zusammenleben aller in unserem Land. Das gilt für jeden, der hier leben will.“ Wenige Stunden danach machten bundesweit nahezu 2000 Straftäter, die meisten erst vor Kurzem angekommen, in Köln und anderswo deutlich, was sie von deutschen Werten, Regeln und Traditionen halten.

Insofern darf man gespannt sein, welchen Themen sich Merkel in diesem Jahr zuwendet — und was am 31. Dezember 2018 davon noch Bestand haben wird. Dies könnte dann tatsächlich Merkels letzte Neujahrsansprache werden und damit eine der Bilanz und des Rückblicks auf die Wende ihrer Kanzlerschaft, die sie selbst am in der Bundespressekonferenz am 31. August 2015 mit dem Satz „Wir schaffen das“ eingeleitet hat. Bis dahin liegen zwölf herausfordernde Monate vor ihr und dem Land.

Unsere Foto-Combos zeigen Angela Merkel bei ihren Neujahrsansprachen von 2005 bis 2009 (oben) und von 2010 bis 2014 (unten). Fotos: dpa