Was tun mit tickenden Zeitbomben?

Sicherungsverwahrung: Gerichte verweigern sich dem höchstrichterlichen Urteil. Potenziell gefährliche Täter bleiben hinter Gittern.

Düsseldorf. Im Saarland ging es ganz schnell: Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Sicherungsverwahrung war erst seit zwei Tagen rechtskräftig, da wurde Walter H. am 12. Mai auf freien Fuß gesetzt. Und wird seither rund um die Uhr polizeilich überwacht. Schließlich ist er ein Mann, der gemordet hatte und immer wieder gewalttätig war. Und deshalb in Sicherungsverwahrung saß. Walter H. ist einer von bundesweit mindestens 70, vielleicht sogar bis zu 200 Fällen, für die das Straßburger Urteil gelten könnte.

In dem Fall, in dem der Straßburger Gerichtshof Deutschland verurteilte, ging es um die rückwirkende Sicherungsverwahrung. Schon seit Jahrzehnten erlaubt das deutsche Strafgesetzbuch, dass ein Täter auch nach Verbüßung der Strafe nicht freikommt, wenn er gefährlich für die Öffentlichkeit ist. Allerdings galt früher dafür eine Höchstgrenze von zehn Jahren.

1998 wurde diese Zehn-Jahres-Grenze per Gesetz gestrichen. Eine Sicherungsverwahrung ist nun unbegrenzt möglich. Und zwar auch bei Altfällen. Damit betrifft die Regel rückwirkend auch solche Straftäter, die bei ihrer Verurteilung noch mit einem sicheren Ende der bereits im Strafurteil angeordneten Sicherungsverwahrung rechnen konnten.

Das Bundesverfassungsgericht hatte dieses deutsche Gesetz noch 2004 abgesegnet. Der Straßburger Menschenrechts-Gerichtshof sieht das ganz anders: Die Anwendung des Gesetzes auch auf Altfälle verstoße gegen das Rückwirkungsverbot. Während das Bundesverfassungsgericht argumentiert hatte, Sicherungsverwahrung sei keine Strafe (und nur für eine solche gelte das Rückwirkungsverbot), sondern eine vorbeugende Schutzmaßnahme, urteilte Straßburg: Sicherungsverwahrung wirkt aber wie eine Strafe. Und darum sei die nachträgliche Anwendung des Gesetzes auf Altfälle verboten.

Seither steht die deutsche Justiz vor dem Dilemma: Soll man auf Straßburg hören und die Sicherungsverwahrten entlassen? Oder dem Sicherheitsinteresse der Bürger den Vorrang einräumen - gegen das Straßburger Urteil, zu Lasten der Eingesperrten?

In NRW, wo laut Landesjustizministerium 29 Fälle betroffen sein können, gab es seither eine Gerichtsentscheidung: Das Oberlandesgericht Hamm hob die Sicherungsverwahrung eines Mannes auch mit Hinweis auf das Straßburger Urteil auf. Andere Richter sehen das anders. Die Oberlandesgerichte Celle, Stuttgart und Koblenz sagten Nein zur beantragten Entlassung der Sicherungsverwahrten.

Begründung: Das Straßburger Urteil könne das geltende deutsche Gesetz, nach dem ja eine nachträgliche Sicherungsverwahrung auch für Altfälle gilt, nicht aushebeln. Auch das Bundesverfassungsgericht verweigerte eine einstweilige Anordnung zur Freilassung eines Sicherungsverwahrten.

Die Politik ist nun unter Zugzwang. Sie kann das Urteil des Menschenrechtsgerichtshofes nicht einfach ignorieren. Die Bundesjustizministerin hat noch für diesen Monat einen Gesetzentwurf angekündigt.