Tiefe Analyse des NRW-Ministerpräsidenten Wie ein neues Buch Hendrik Wüst analysiert
DÜSSELDORF · In einer jetzt erschienenen detailreichen Biografie gehen die Autoren der Frage nach, ob der NRW-Ministerpräsident womöglich für noch mehr infrage kommt. Obwohl er doch ein ziemlich wandelbarer, pragmatischer Schwiegermutter-Typ sei.
Die Biografie über Armin Laschet, die Tobias Blasius (Funke Mediengruppe) und Moritz Küpper (Deutschlandfunk) 2021 veröffentlicht haben, kam noch ein wenig dicker daher. Klar, mehr Leben als Hendrik Wüst hatte Laschet bis dato gelebt, aber kaum war das lesenswerte Buch über den womöglich nächsten deutschen Bundeskanzler aus Aachen geschrieben, schon zerstoben dessen Hoffnungen im fragilen Bundestagswahlkampf. Zerlächelt im Hochwassergebiet, aufgespießt vom feindseligen Markus Söder. Das muss auch für die Autoren ärgerlich gewesen sein: „Der Machtmenschliche“ hätte sich vielfach häufiger verkauft, wäre der ehemalige NRW-Ministerpräsident nicht jäh abgestürzt – und heute ein Bundestagsabgeordneter mit Gleichmut, aber ohne Macht.
Wie zum Trotz legen die beiden Journalisten gleich die nächste Biografie vor: etwas dünner, aber nicht weniger inhaltsreich begutachten sie Laschets Nachfolger Hendrik Wüst. Und wieder ist die Machtfrage ihr leitendes Motiv. Mithin die Analyse wie schon bei Laschet, ob der Protagonist – nun als „Machtwandler“ definiert – denn als nächster Kanzler der Deutschen infrage käme. Oder weg von der bloßen Person: ob so viel Wandelbarkeit in Person mit Fähigkeit zu Moderation und einer „politischen Anschlussfähigkeit eines Mehrfachsteckers“ die eigentlich perfekte Eignung für das hohe Staatsamt bedeuten. Also unverrückbare Werte und Themenversessenheit nur Schaden anrichten. Eine Entscheidung – so viel Abstand und Contenance muss sein – treffen Blasius und Küpper nicht. Aber sie geben dem Leser allerhand Material an die Hand für die eigene Bewertung. Was will ein Buch mehr?
Es gelingt ihnen beeindruckend detailreich, über Gespräche mit zahlreichen Weggefährten aus allen Dekaden Motivlagen Wüsts zu erforschen. Und anhand wiederkehrender und ausgetauschter Handlungsmuster über Wüsts Heimat-Kleinstadt Rhede im Kreis Borken und den Landtag in Düsseldorf auch eine Berechenbarkeit des 1,91-Meter-Schlaks zu zeichnen. Soll heißen: Wer wissen will, was von Wüst noch zu erwarten sein könnte, sollte dieses Buch lesen.
In dem erinnert der heutige CDU-Chef Friedrich Merz so reizvoll wie weitsichtig an seinen einst gegebenen Ratschlag für den aufsteigenden Wüst: „Du darfst nie einen Zweifel daran lassen, dass du ein potenzieller Kanzler der Bundesrepublik Deutschland sein kannst!“ Ob diese Weisheit in den kommenden Monaten noch auf Merz zurückschlagen wird? Man weiß es nicht. Aber nach Lektüre dieses Buchs traut man es Wüst zu.
In dem ist das politische Erweckungserlebnis für die Karriere des Abiturienten (Schnitt 2,5) die Kandidatennominierung für den Landtag, als Außenseiter Wüst seine Rede im dicht besetzten Dorfsaal der Stimmun angepasst kurzerhand auf das Wesentliche reduziert. Und schon zuvor per Detailplanung das Publikum besetzt hatte. Wüst siegt. Er wird als Detailpolitiker beschrieben, der im entscheidenden Moment immer die richtigen Karten zieht. Auch, weil er sie sich vorher alle in den Ärmel gesteckt hat. Akkurat vorbereitet, jede Eventualität im Blick. Prägendes Motto: „Politik ist Vorbereitung, die wie Fügung aussieht.“ Überrascht zu werden, ist gegen seine Natur. Als eine WDR-Reporterin ihm attestiert, in kürzesten Abständen aber auch alle Rollenbedarfe erfüllen zu können und ihn deshalb einen „Politikprofi“ schimpft, sagt Wüst: „Möchten Sie von jemandem regiert werden, der kein Profi ist?“
Den Weg hin zu dieser Eigenwahrnehmung ist gekennzeichnet von Menschen, die die Autoren im Detail nachzeichnen. Ob alte Handballkameraden, die dem Linksaußen Wüst kein Talent, wohl aber Behauptungswillen attestieren oder der Rheder Stammfriseur, der schon Wüsts früh verstorbener Mutter (Wüst war 19, als sie dem Krebs erlag) und seinem 2010 gestorbenen Vater die Haare richtete, kommen zu Wort. Detailliert wird der Leser mitgenommen in eine Welt, in der ein personifizierter Aktenkoffer gegen den linksliberalen Mainstream an seiner Schule opponiert und so seine Persönlichkeit schärft. Meist schlägt ihm dafür Respekt, aber keine Zuneigung entgegen – ein wiederkehrendes Motiv bei Wüst.
Besonders beeindruckend ist die stete Wandlung Wüsts nachgezeichnet, der als konservativer Scharfmacher des Möchtegern-Landesvaters Jürgen Rüttgers und als politisches Großmaul in der Rolle des CDU-Generalsekretärs in NRW unter die Räder kommt und zurücktreten muss. Und danach total ausgelaugt, aber immer analysefähig die Lehren daraus sortiert. Der heutige Wüst, heißt es im Buch, sei ohne den damaligen Wüst nicht zu erklären. Und so ist es.
Interessant auch, wie Wüst mit der sogenannten „Einstein-Connection“ 2007 politischen Anschluss an die konservativen Talente Markus Söder, Stefan Mappus und seinen vor Jahren früh verstorbenen Freund Philipp Mißfelder, der posthum womöglich Pate bei der Namensgebung Wüsts Tochter Philippa stand, gewinnt. Und sie alle zusammen versuchen, in Zeiten der frühen Großen Koalition unter Angela Merkel die CDU an ihre konservative Kraft zu erinnern – natürlich auch pures Eigenmarketing.
Klar ist: Freunde und Feinde von einst liegen oft längst am Wegesrand, Wüst ist immer noch da. Und man muss damit rechnen, dass der passionierte Jäger, heute 48 und als solcher einer Biografie eigener Einschätzung nach noch gar nicht würdig, alle noch längst nicht erlegt hat. Kühles Kalkül, Perfektionismus und freundliche Kumpelhaftigkeit, so die Autoren, könnten Wüst den Weg auch weiter ebnen. Er habe verstanden, dass das Performative wichtiger sei als das Programm. Er trage Helm beim Radfahren, lache nie an falscher Stelle und „verlässt Feiern konsequent, bevor es lustig ist“. Deshalb Wüst.