Depressionen treiben immer mehr Menschen in Frührente
Ausgelaugt vom Zwang zu permanenter Verfügbarkeit und steigender Arbeitsverdichtung.
Berlin. Stress ist zur Volkskrankheit geworden. Seit Jahren registrieren die Krankenkassen eine deutliche Zunahme psychischer Leiden. Die Folge: Arbeitnehmer fehlen immer häufiger und immer länger. Die am schlimmsten Betroffenen müssen sogar vorzeitig mit dem Berufsleben Schluss machen — Depressionen oder Angststörungen treiben sie in die Frührente.
Allein im vergangenen Jahr waren es bundesweit fast 71 000 Männer und Frauen, die wegen psychischer Erkrankungen in Frührente gingen. Das waren etwa 6500 mehr als 2009. Nach der offiziellen Statistik führten psychische Störungen 1993 — im ersten Jahr der gemeinsam für West- und Ostdeutschland erfassten Daten — noch in 41 414 Fällen zu einer Früh- oder Erwerbsminderungsrente.
Das entspricht einem Zuwachs von 71 Prozent in 18 Jahren. „Psychische Erkrankungen entwickeln sich zur Epidemie in der modernen Arbeitswelt“, sagt IG-Metall-Vorstand Hans-Jürgen Urban.
Auch wenn die absoluten Zahlen angesichts von zuletzt gut 850 000 Neurentnern vergleichsweise gering erscheinen: Der Trend ist klar. Und es trifft durchweg den Otto Normalverbraucher, der dann still und heimlich und mit Abschlägen in die Erwerbsminderungsrente verschwindet.
Die Daten der Rentenversicherung korrespondieren mit Zahlen, die der Bundesverband der Betriebskrankenkassen für 5,7 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte repräsentativ erhebt und auswertet. Danach nehmen die Fehltage durch psychische Störungen seit Jahren kontinuierlich zu. Sie verursachen mittlerweile jeden achten Krankheitstag — ein Spitzenwert. 1976 lag ihr Anteil bei nur zwei Prozent aller Erkrankungen.
Vor allem bei Arbeitnehmerinnen ist ein dramatischer Anstieg von Arbeitsunfähigkeit aufgrund seelischer Leiden zu verzeichnen: Fehlten Frauen, die an psychischen Störungen litten, im Jahr 1998 laut Betriebskrankenkassen im Schnitt 118 Tage im Job, waren es im vergangenen Jahr schon 245 Fehltage.
Die internationalen Konzern-Verflechtungen bei zunehmendem Konkurrenzdruck führen zu höheren Anforderungen an die Arbeitnehmer. Um die fatale Entwicklung zu bremsen, muss nach Überzeugung aller Experten in den Betrieben vorbeugend gegengesteuert werden: Das Bundesgesundheitsministerium will dazu in Zusammenarbeit mit Firmen demnächst ein Stressabbauprogramm für Beschäftigte auflegen.