Lehrlingszahlen nehmen ab - Duale Ausbildung in der Krise?
Berlin (dpa) - Im Ausland bewundert, von jeder Bundesregierung in den höchsten Tönen gelobt - und bei Schulabgängern immer unbeliebter. Dem deutschen dualen Ausbildungssystem von Lehrbetrieb und Berufsschule geht es wie dem sprichwörtlichen Propheten, der im eigenen Land nichts gilt.
Es wird immer schwieriger für die Wirtschaft, Nachwuchs zu gewinnen. Flüchtlinge sind in der Statistik noch nicht wirklich angekommen.
Wie sehen die aktuellen Lehrlingszahlen aus?
Das Statistische Bundesamt meldet seit Jahren ein Rekordtief nach dem anderen. Jetzt auch wieder: Noch nie starteten in Deutschland so wenige Menschen in eine duale Ausbildung wie 2015 - mit 516 000 waren es noch einmal 0,4 Prozent weniger als im Jahr davor. Die meisten jungen Frauen und Männer gingen in die Industrie (309 000), wo der Rückgang mit 1,1 Prozent aber auch besonders spürbar war. Das Handwerk (137 000) hatte mit 0,2 Prozent ein geringeres Minus zu verkraften. Ende 2015 befanden sich knapp 1,34 Millionen Menschen in Ausbildung - 1,6 Prozent oder 22 400 weniger als ein Jahr zuvor.
Welche Gründe nennen die Wiesbadener Statistiker?
Einerseits die demografische Entwicklung: Es gab - zumindest vor den Auswirkungen des enormen Flüchtlingsandrangs Ende 2015 - insgesamt weniger junge Menschen „in der für die duale Ausbildung typischen Altersgruppe“, heißt es. Andererseits die Studierneigung der Schulabgänger mit Hochschulreife: Rund 53 Prozent eines Jahrgangs in Deutschland beginnen derzeit laut Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ein Studium oder einen anderen sogenannten tertiären Bildungsgang wie Meister oder Techniker.
Wie haben sich die Studentenzahlen entwickelt?
Gegenläufig zur den Azubi-Zahlen. Exakt 2 759 267 Studenten gab es im Wintersemester 2015/16 an deutschen Hochschulen - doppelt so viele wie in der dualen Ausbildung. Vor 15 Jahren waren es nur knapp 1,8 Millionen Studierende. 503 600 Menschen nahmen nach den Daten des Statistischen Bundesamtes im vorigen Jahr erstmals ein Studium auf - die aktuellen Lehrlingszahlen liegen also nur noch minimal darüber.
Ist der Ruf der dualen Ausbildung denn so mies?
Im Gegenteil - zumindest offiziell. Kanzlerin Angela Merkel und Bildungsministerin Johanna Wanka schwärmen bei jeder Gelegenheit, wie gut das System funktioniere. Viele ausländische Staatsgäste sind begeistert und würden die Kombination Lehrbetrieb/Berufsschule am liebsten in ihrem Land übernehmen. Auch die OECD sieht zum Studium „eine attraktive Alternative durch eine berufliche Ausbildung“ in Deutschland, wirbt aber dennoch weiterhin für die Hochschulbildung.
Ist ein Studium für Job- und Verdienstchancen die bessere Lösung?
Die OECD verweist auf Zahlen, wonach der Anteil der Erwerbstätigen unter Hochqualifizierten - etwa mit Studienabschluss - bei 88 Prozent liege. Ein abgeschlossenes Studium sei der zuverlässigste Schutz gegen Arbeitslosigkeit und ermögliche ein gutes Gehalt. Skeptiker wie der gegen einen „Akademisierungswahn“ in Deutschland zu Felde ziehende Ex-Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin, aber auch Wirtschaftsverbände halten dagegen. „Mit völlig absurden Botschaften wie „Wer studiert, verdient im Lauf seines Lebens eine Million Euro mehr““ werde jungen Leuten der Kopf verdreht, sagt Nida-Rümelin.
Was tut die Bundesregierung?
Die zuständige Ministerin Wanka setzt dieses Jahr einen Schwerpunkt bei der Berufsausbildung - mit Programmen, die sich speziell an Schüler, Schulabgänger und Studienabbrecher richten, etwa „Jobstarter“ als Förderprogramm für mehr Lehrstellen. Zudem beschloss die CDU-Politikerin mit Wirtschaft, Gewerkschaften und Bundesländern 2014 eine „Allianz für Aus- und Weiterbildung“, unterfüttert mit ambitionierten Ausbildungszahlen. Hauptziel: Man wolle „die Bedeutung und Attraktivität der beruflichen Bildung deutlich aufwerten“.
Könnten Hundertausende junge Flüchtlinge gegen den Mangel helfen?
Darauf setzen Wirtschaft, Arbeitsämter und Regierung. So sollen rund 10 000 junge Flüchtlinge rasch mit einem Qualifizierungsprogramm für die Ausbildung im Handwerk fit gemacht werden. Wanka stellt dafür 20 Millionen Euro zur Verfügung, und Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer betont: „Wir brauchen keine Schubkarrenschieber, wir brauchen Fachkräfte.“ Die Bundesagentur für Arbeit zieht mit. Auch die Industrie- und Handelskammern haben ein Aktionsprogramm gestartet, um Flüchtlinge für die duale Ausbildung zu gewinnen.