Coming-Out mit 60: Im Alter finden Homosexuelle schwerer Anschluss
Köln (dpa/tmn) - Jung, hip, gut aussehend - und homo. Ein Klischee, das vor allem in Großstädten zutrifft. Doch Homosexualität im Alter ist meist nicht so verrückt und bunt. Viele ältere lesbische und schwule Senioren sind einsam.
Ein Coming-Out mit 60 ist nicht einfach.
Es ist das Gefühl, ein Leben lang mit einer Lüge gelebt zu haben. Und nun, wo die Jahre immer weniger werden, steht die Entscheidung, endlich damit Schluss zu machen, ehrlich zu sein. So geht es vielen Menschen, die sich erst im Alter zu ihrer Homosexualität bekennen. Dieser Schritt fällt oft nicht so leicht wie in jungen Jahren - vor allem, wenn es eine Familie und Kinder gibt.
Ein spätes Outing hat meist nichts damit zu tun, dass jemand seine wahre Sexualität erst spät erkennt. „In der Regel ist die eigene Homosexualität schon früh bekannt, und es gibt über Jahre ein Doppelleben mit Ehe und Familie“, sagt Markus Schupp, Koordinator für schwule Seniorenarbeit im Sozialwerk für Lesben und Schwule Köln. Und Marco Pulver vom Netzwerk Anders Altern der Schwulenberatung in Berlin erzählt, dass sich bis heute ein Großteil der Männer erst später im Leben oute.
Für Frauen sei der Schritt zum Coming-Out noch stärker mit Angst behaftet, auch aus geschichtlichen Gründen, erklärt Ilona Schulz, die lesbische Seniorenarbeit in Köln macht. Die Lesben, die heute alt oder etwas älter seien, hätten gelernt, sich zu verstecken. „Das ist vielen zur zweiten Haut geworden.“ Im Nationalsozialismus sei das Frauenbild sehr rigide gewesen. „Den Frauen wurde eine eigene Sexualität abgesprochen. Sie sollten sich dem Mann unterordnen, Kinder bekommen und den Haushalt führen.“
Ein Outing wirft große Fragen auf: Wie sage ich es meinem Partner? Wie den Kindern? Und dem Freundeskreis? Auch wenn manche nach der Trennung ein Arrangement mit dem alten Partner finden, sei die Scheidung erst einmal schwierig, sagt Schupp. Frauen, die ein sehr traditionelles Rollenbild gelebt haben, fallen besonders unsanft aus dieser Rolle heraus.
Für die Betroffenen ist der große Befreiungsschlag häufig erst einmal eine Enttäuschung. Viele ältere Menschen wüssten nicht, in welche Welt sie kommen, weil sie diese nur aus der Sicht des Versteckten kennen, sagt Schupp. „Sie sehen bunte CSD-Umzüge und bunte Kneipen, aber das ist kein Leben, was auf Menschen in ihrem Alter wartet.“
Auch für den, der schon länger offen homosexuell gelebt hat, ist das Altwerden oft schwierig. „Als junger schwuler Mann findet man ganz schnell Anschluss“, sagt Pulver. „Da gibt es ein Schönheitsideal, der Kontakt bahnt sich über die Sexualität an.“ Im Alter falle das weg.
Peter Sibley sagt von sich: „Weiß Gott, ich bin alt. Und weiß Gott, ich bin schwul.“ Der 71-Jährige wohnt in Berlin im „Lebensort Vielfalt“ in einer Achter-WG für pflegebedürftige ältere Schwule. Er macht nicht den Eindruck, dass er seine Persönlichkeit verstecken will. Wenn die körperliche Anziehungskraft im Alter nachlässt, müsse man sich eben auf seine anderen Talente verlassen. Für ihn sind das zum Beispiel die Schauspielerei, das Kochen und das Gärtnern.
Sibley ist in Schwulenforen aktiv, für ihn ist das Netz der Zugang zur Welt. „Ich finde das toll“, sagt er. „Es ist überhaupt nicht so mühsam, Leute kennenzulernen wie früher, wo wir stundenlang in Bars herumsaßen und Drinks kauften, nur um einmal im Monat eine Telefonnummer zu bekommen.“
Der einzige Weg gegen die Einsamkeit im Alter sei die Kontaktaufnahme zu Gleichgesinnten, sagt auch Marco Pulver. In größeren Städten sei es sicher gut, Angebote für Homosexuelle zu nutzen. „Anrufen und vorbeigehen“, rät er. „Es gibt Leute, die wieder richtig aufblühen.“