Bielefelder Studie Ein Drittel der Kinder vermisst Beachtung durch Eltern

Berlin (dpa) - Fast jedes dritte Kind fühlt sich nach einer Studie in drei deutschen Großstädten von seinen Eltern zu wenig beachtet. Das ist das Hauptergebnis einer Untersuchung der Universität Bielefeld im Auftrag der Bepanthen-Kinderförderung, die nun vorgestellt wurde.

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Geschulte Studenten haben dafür im Sommer 2016 etwa 1000 Kinder und Teenager im Alter zwischen 6 und 16 Jahren interviewt. „Sie wollen wissen, wo ich bin. Aber was ich mache, das interessiert sie nicht“, erzählte ein Grundschuldkind den Interviewern über seine Eltern. „Wir gucken Fernsehen, aber sonst machen wir eigentlich nichts zusammen“, antwortete ein anderes Kind.

Dass sich ihre Eltern nicht für sie interessieren, haben 72 Prozent der Kinder geantwortet, die sich zu wenig wahrgenommen fühlen. Das waren insgesamt rund 30 Prozent aller befragten Kinder - zehn Prozent von ihnen fühlten sich überhaupt nicht beachtet. Im Ergebnis sagt nur jedes zweite unzufriedene Kind Vater oder Mutter, wenn es vor etwas Angst hat oder Kummer, ergab die Befragung.

Die Wissenschaftler sehen in ihrer Studie ernstzunehmende Trends. „Rund zehn Prozent der Familien sind im sozialen Sinn gar keine“, urteilt der Bielefelder Sozialpädagoge Holger Ziegler, wissenschaftlicher Leiter der Untersuchung. „Sie sind wie Zweckgemeinschaften, in denen zwei Generationen zusammenleben. Die materiellen Bedürfnisse werden oft erfüllt, die emotionalen aber eher nicht.“ Für Ziegler ist das fatal. „Nicht vorhandene Achtsamkeit ist für die Entwicklung von Kindern so gravierend wie ein Leben in Armut“, sagt er.

Die Untersuchung unter dem Titel „Achtsamkeit in Deutschland - Kommen unsere Kinder zu kurz?“ basiert auf persönlichen Befragungen von Jungen und Mädchen. Repräsentativ für Deutschland ist die Studie durch die Beschränkung auf die Großstädte Berlin, Leipzig und Köln für Jugendforscher Klaus Hurrelmann, der nicht daran beteiligt war, jedoch nicht. „Es ist eine Momentaufnahme“ schränkt er ein.

Ale zentrales Ergebnis der Untersuchung vermisst ein Fünftel der unzufriedenen Kinder Sicherheit und Geborgenheit im Elternhaus. Bei den Jugendlichen fühlt sich sogar fast die Hälfte (46 Prozent) nicht geborgen. Als Folge sieht Ziegler bei ihnen Defizite beim Selbstbewusstsein und Vertrauen, aber auch weniger Einfühlungsvermögen und Lebenszufriedenheit.

Jugendforscher Hurrelmann findet den Ansatz der Studie interessant. „Sie weist auf ein dringliches Problem der möglichen Vernachlässigung von Kindern heute hin, das in der Öffentlichkeit sicherlich stark tabuisiert ist und deswegen wenig diskutiert wird“, sagt er.

Die Studie zeigt aber auch: Die große Mehrheit der befragten Mädchen und Jungen ist mit der Beachtung durch ihre Eltern zufrieden. 69 Prozent der Kinder und 83 Prozent der Jugendlichen waren der Meinung, dass Mutter und Vater ihnen genügend Aufmerksamkeit schenken. Auffällig für Forscher Ziegler war dabei, dass dieses Wohlfühlen in der eigenen Familie weder vom Bildungsgrad der Eltern noch von ihrer sozialen Lage abhing. Auch ausländische Wurzeln spielten keine Rolle, sagt der Wissenschaftler. Und Kinder von Alleinerziehenden waren mit der Beachtung ihrer Wünsche, Sorgen und Nöte sogar noch zufriedener als Altersgenossen, die mit Mutter und Vater aufwachsen - 80 Prozent gegenüber 71 Prozent.

Mikrosoziologe Klaus Bertram, der jüngst für Unicef Statistiken über die Lebensbedingungen von Kindern in Deutschland ausgewertet hat, sieht ebenfalls eine hohe Zufriedenheit mit den Eltern. „Die Mütter kommen unglaublich gut weg, weil sie sich oft ohne Einschränkungen auf ihre Kinder fokussieren“, erläutert er. „Bei den Vätern gibt es Abstriche, weil sie während der Zeit mit ihren Kindern oft noch ihr eigenes Ding machen, zum Beispiel mit dem Handy surfen oder telefonieren.“

Für Forscher Ziegler ist die Liebes- und Fürsorgebeziehung in einer Familie durch keine andere Institution zu ersetzen. „Einen Ort von Geborgenheit, in denen ein junger Mensch auf diese Weise beachtet, wertgeschätzt und geliebt wird, können weder Schule noch Freundeskreis ersetzen“, urteilt er. „Die gute Nachricht ist, dass 70 Prozent der Familien in Deutschland das schaffen.“