Einzelkinder sind besser als ihr Ruf

München (dpa/tmn) - Einzelkinder gelten als verwöhnt und egoistisch. Experten zufolge ist an den Klischees nichts dran. Kindern ohne Geschwister falle es sogar leichter, auf andere zuzugehen. Voraussetzung dafür ist, dass sie sich früh mit Gleichaltrigen zusammentun.

„Klar, sie ist ja auch ein Einzelkind.“ Mal klingt es nachsichtig, mal spöttisch-vorwurfsvoll. Einzelkinder sind egoistisch, altklug, verwöhnt - die Vorurteile halten sich hartnäckig. Aber was ist dran an den Klischees? So gut wie nichts, sagen Experten. Denn „das“ Einzelkind gibt es nicht.

Mit einer Fehlannahme kann gleich zu Beginn aufgeräumt werden: Entgegen der landläufigen Meinung gibt es nicht immer mehr Einzelkinder. Rund 22 Prozent aller Kinder bleiben auf Dauer geschwisterlos, eine Zahl, die seit Jahrzehnten auf einem ähnlichen Niveau stagniert. „Es gibt allerdings immer mehr Frauen oder Paare, die gar kein Kind haben und immer weniger Familien mit mehr als zwei Kindern“, erklärt Christian Alt vom Deutschen Jugendinstitut in München die oft verzerrte Wahrnehmung.

In seinen Forschungen und Untersuchungen fand der Soziologe keines der üblichen Vorurteile gegenüber Einzelkindern bestätigt. „Dass sie manchmal altklug erscheinen, liegt lediglich daran, dass sie sehr früh gelernt haben, die Erwachsenensprache zu verwenden.“ Dies verschaffe Einzelkindern zwar verbal und in der Schule einen deutlichen Vorsprung, der sich aber im Laufe der Zeit relativiere.

Auch die Wissenschaftsjournalistin Brigitte Blöchlinger aus Zürich, selbst aufgewachsen mit drei Geschwistern und heute Mutter einer Tochter, sagt: „Es gibt keinen typischen Einzelkind-Charakter.“ Sie hat sich intensiv mit Studien zu dem Thema beschäftigt und fand lediglich zwei offensichtliche Unterschiede zu Kindern mit Geschwistern. „Einzelkinder können oft nicht so gut streiten und sind deutlich extrovertierter als Geschwisterkinder.“ Dies aber sei durchaus nachvollziehbar, denn wer als Kind ohne Geschwister aufwächst, lernt schnell, auf andere zuzugehen und zu kooperieren, um nicht alleine spielen zu müssen.

Freunden schreiben die Experten demnach eine ganz besondere Rolle zu. Christian Alt rät Eltern von Einzelkindern, dem Nachwuchs möglichst viele Gelegenheiten zu geben, fehlende Geschwister durch andere Kinder zu ersetzen. „Kinder lernen am besten in hierarchiefreien Räumen, da spielt die Peergroup, also die Gleichaltrigen, eine ganz wichtige Rolle.“

Erika Wenck, Leiterin des Internationalen Kinderladens in Hamburg, hält es ebenfalls für wichtig, dass sich Kinder mit Gleichstarken zusammentun können. „Einzelkindern fehlt naturgegeben die Möglichkeit, sich mal gegen die Eltern oder andere Erwachsene verbünden zu können.“ Diese Erfahrung aber sei enorm wichtig - im Verbund mit anderen Kindern könnten sie erleben, dass sie selbst etwas bewirken und ihre Interessen durchsetzen können.

Als nachteilig in der Situation als Einzelkind sehen die Experten vor allem eines: „Eltern neigen dazu, ihre Kinder als Projektionsfläche für eigene Vorstellungen zu nutzen“, sagt Christian Alt. „Diese Gefahr besteht für Einzelkinder besonders.“ In Familien mit Geschwistern verteilen sich Erwartungen und Anforderungen der Eltern dagegen auf mehrere Schultern.

Die positive Kehrseite der fokussierten Aufmerksamkeit in Ein-Kind-Familien zeigt sich dafür häufig in einem gesunden Selbstbewusstsein des Sprösslings. „Das Gefühl, etwas Einzigartiges zu sein, macht stark“, weiß Brigitte Blöchlinger aus den unterschiedlichen Studien. Ebenso scheint der enge Kontakt zu den Eltern ohne einen „Rivalen“ an der Seite auch auf längere Sicht zu weniger Neidgefühlen im Leben zu führen.

Alle Eltern, besonders aber Mütter und Väter mit nur einem Kind, sollten ihre eigenen Bedürfnisse Ernst nehmen und gegenüber dem Kind verteidigen. So lerne ein Einzelkind am einfachsten, dass es auch andere Bedürfnisse als nur die eigenen gibt, sagt Blöchlinger. Gerade Mütter von Einzelkindern neigten - je nach Grund für das mangelnde Geschwisterchen - zu einem schlechten Gewissen und machten sich schnell erpressbar.

Schwieriger als im Geschwisterverbund wird die Situation für Einzelkinder nach Einschätzung der Experten im späteren Erwachsenenalter, etwa dann, wenn die eigenen Eltern gebrechlich und pflegebedürftig werden. „Viele empfinden die Familie dann als eng und schmal und wünschen sich Geschwister, um sich unterstützen zu können“, sagt Alt.

Einzelkinder, die selbst in die Jahre kommen, vermissen oft Bruder oder Schwester, um gemeinsam in Erinnerungen zu schwelgen. Langjährige Freundschaften können so etwas aber ersetzen, sagt Blöchlinger. Sie sieht in der Sozialisation als Einzelkind ohnehin eine große Chance fürs Alter. „Wer sein Leben lang immer wieder auf neue Leute zugehen musste und Freundschaften gepflegt hat, wird davon auch als älterer Mensch profitieren.“

Literatur:

- Brigitte Blöchlinger: Lob des Einzelkindes: Das Ende aller Vorurteile, Krüger, 240 Seiten, 14,90 Euro, ISBN-13: 978-3810502629

- Hartmut Kasten: Einzelkinder und ihre Familien, Hogrefe, 136 Seiten, 19,95 Euro, ISBN13: 978-3801720384