„Ganz normal und gleichzeitig anders“: Leben mit Pflegekindern
Konstanz (dpa) - Die Familie von Angelika Gattmann ist bunt zusammengewürfelt: Neben ihrem leiblichen Sohn hat die Mutter noch zwei Adoptiv- und zwei Pflegekinder. Aber kann sie alle gleich behandeln?
Konstanz (dpa) - Die Familie von Angelika Gattmann ist bunt zusammengewürfelt: Neben ihrem leiblichen Sohn hat die Mutter noch zwei Adoptiv- und zwei Pflegekinder. Aber kann sie alle gleich behandeln?
Angelika Gattmann öffnet die Tür ihres kleinen Reihenhäuschens in Konstanz am Bodensee. Aus der Küche hört man Stimmengewirr, Geschirr klappert, Menschen lachen. „Viel los heute“, sagt sie. Die Schwiegermutter ist zu Besuch, die Familie sitzt am Küchentisch, es riecht nach Pfannkuchen und Tee. „Alles ganz normal und gleichzeitig anders“, sagt Gattmann. Denn ihre Familie ist bunt zusammengewürfelt: Neben ihrem leiblichen Sohn hat Gattmann noch eine Adoptivtochter, einen Adoptivsohn und zwei Pflegesöhne.
Beinahe von einem Tag auf den anderen sei sie zur Pflegemutter geworden, sagt Gattmann. 1984 ist sie gerade mal 27 Jahre alt und schwanger. Eine Bekannte vom Jugendamt spricht sie an: Ob sie sich vorstellen könnte, eine Bereitschaftspflege von vier bis sechs Wochen zu übernehmen? Warum nicht, denken Gattmann und ihr Mann - und der Sozialarbeiter bringt ein neunjähriges Mädchen und ihren sieben Jahre alten Bruder kurzerhand zu ihr nach Hause. „Am Ende ist ein ganzes Leben daraus geworden“, sagt Angelika Gattmann. Als klar war, dass die beiden bleiben dürfen, habe sie ein solches Strahlen in den Augen des Mädchens gesehen. „Das war Liebe auf den ersten Blick.“
Bei ihren leiblichen Eltern konnten die Kinder nicht bleiben. „Sie waren einfach überfordert mit uns“, sagt die heute 38 Jahre alte Tochter, die ihren Namen nicht nennen möchte. Die ersten Jahre ihres Lebens verbringt sie mit ihrem Bruder und zwei Halbschwestern hauptsächlich auf der Straße, die Kinder sind verwahrlost, müssen sich jeden Tag aufs Neue durchschlagen. Erst Jahre später greift das Jugendamt ein und bringt sie in Pflegefamilien und Heimen unter.
Doch das Mädchen und sein Bruder dürfen nirgendwo auf Dauer bleiben, sie wechseln von Pflegefamilie zu Pflegefamilie. „Das prägt mich heute noch“, sagt die 38-Jährige, die inzwischen selbst Mutter von zwei Kindern ist. In einer Familie leiden sie unter Schlägen, die Pflegemutter sperrt die Kinder sogar im Keller ein. „Um nicht zu verdursten, haben wir Reste aus Bierflaschen getrunken.“
Bei Angelika Gattmann und ihrem Mann finden die Geschwister einen sicheren Rückzugsort. Über die Jahre wachsen sie als Familie zusammen, für den leiblichen Sohn gehören die Pflegegeschwister ganz selbstverständlich dazu. Auch Oma und Opa behandeln alle Kinder gleich. „Wir haben nie einen Unterschied gemacht“, sagt Gattmann.
Was ihr aber vor allem am Anfang Probleme machte: „Ich konnte manche Verhaltensweisen einfach nicht richtig verstehen“, sagt sie. Das gehe vielen Pflegeeltern so: „Es ist nicht so leicht, zu verstehen, warum ein Kind Sehnsucht nach einer Umarmung hat und dann aber zittert, wenn man es in den Arm nimmt.“
Einmal im Jahr hätten sie Kontakt mit dem Jugendamt gehabt, ansonsten seien sie als Familie auf sich allein gestellt gewesen. „Ich wünsche mir, dass es da ein besseres Miteinander gibt, mehr auf Augenhöhe“, sagt die 56-Jährige, die auch Ortsvorsitzende des Pflege- und Adoptivelternvereins Pfad in Konstanz ist. Vor allem die Besuche bei den leiblichen Eltern müssten sensibler gestaltet werden - das Kindeswohl müsse dabei im Vordergrund stehen. „Ob das Kind nach dem Besuchstag nicht mehr isst oder drei Tage lang braucht, bis es wieder auf der Reihe ist, spielt manchmal leider keine Rolle.“
Immer weniger Menschen seien inzwischen dafür zu begeistern, Pflegeeltern zu werden. „Obwohl mehr denn je mutige und verantwortungsbewusste Menschen gebraucht werden, die Kinder mit viel Liebe unterstützen, wenn ihre leiblichen Eltern dazu nicht in der Lage sind“, sagt Angelika Gattmann.
2002 nehmen sie und ihr Mann noch einmal einen Pflegesohn auf - zehn Jahre alt ist er und schwer traumatisiert. Sein sechs Jahre alter Bruder ist ebenfalls oft zu Besuch, 2010 zieht er als weiteres Pflegekind in die Familie ein. Die Gattmanns sind nun zu siebt.
Und um auch nach außen hin offiziell eine Familie zu sein, entschließen sie sich vor wenigen Jahren zu einem weiteren Schritt: Ihre ersten zwei Pflegekinder lassen sich als Erwachsene von den Gattmanns adoptieren. Als sie selbst im Begriff war, eine Familie zu gründen, habe sie auch den Namen ihrer Eltern annehmen wollen, sagt die heute 38-Jährige. „Das war einfach wichtig für mich.“