Studie räumt mit Märchen auf: Stiefeltern nicht immer böse
Rostock (dpa) - Das Verhalten von Stiefeltern zu ihren Kindern hängt Forschern zufolge auch von äußeren Lebensumständen ab. Zumindest früher hätten die wirtschaftlichen Perspektiven eine große Rolle gespielt.
Forscher in Rostock und Kanada haben mit der in Märchen verbreiteten Vorstellung von immer bösen Stiefeltern aufgeräumt. Dafür verglichen sie in einer Studie die Sterblichkeit von Kindern in Patchwork-Familien des 17. bis 19. Jahrhunderts. Eltern behandelten demnach die Stiefkinder im Durchschnitt nur dann schlechter als ihre eigenen, wenn sie wenig Raum für ihre wirtschaftliche Entwicklung hatten.
„Wir konnten beweisen, dass der "Aschenputtel-Effekt" kein unvermeidbarer Reflex von Stiefeltern ist“, erklärte Kai Willführ vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock, der die Untersuchung gemeinsam mit Alain Gagnon von der Universität Montreal gemacht hat. Die Ergebnisse veröffentlichten sie im Fachjournal „Biodemography and Social Biology“.
Die Fürsorge der Stiefeltern hängt demnach von mehr ab als von der biologischen Verwandtschaft, wie viele Forscher Willführ zufolge bislang glaubten. Diese meinten, dass Eltern zwangsläufig schlechter für Stiefkinder sorgten, weil sie nicht ihre Gene verbreiten.
Die Vernachlässigung von Stiefkindern untersuchten die Forscher anhand der Sterblichkeit von Tausenden Kindern in der ostfriesischen Region Krummhörn, die bereits stark bevölkert war und wenig Raum für wirtschaftliche Entwicklung bot, sowie in expandierenden Siedlungen in der heutigen kanadischen Provinz Québec. Für beide Regionen berechneten sie, wie sich die Überlebenschancen von Kindern änderten, wenn der Vater nach dem Tod der Mutter wieder heiratete.
Ergebnis: Nur in der Region Krummhörn, die wenig Perspektiven bot, hatte die Stiefmutter einen negativen Einfluss. Nur dort starben die Kinder aus erster Ehe des Vaters häufiger, wenn die Stiefmutter einzog oder Halbgeschwister geboren wurden. Verlor ein Krummhörner Mädchen früh die Mutter, wuchs seine Wahrscheinlichkeit, den 15. Geburtstag nicht zu erleben, auf über das Doppelte des Risikos eines vergleichbaren Mädchens, dessen Mutter nicht starb. Heiratete der Vater danach wieder und die Stiefmutter zog ein, stieg die Sterblichkeit noch einmal ebenso stark.
Bei Jungen habe es einen ähnlichen Effekt gegeben, sagte Willführ auf Nachfrage. Allerdings habe dort eine erneute Heirat des Vaters keine so deutlichen Auswirkungen gehabt. Entscheidender in dem Fall sei die Geburt von Halbgeschwistern gewesen.
„Die Stiefmütter in Québec schienen zu verstehen, dass die Kinder aus erster Ehe ihres Mannes den eigenen Kindern mit dem neuen Ehemann nicht im Weg stehen“, so Willführ. Die kanadischen Halbgeschwister seien in der Expansionsphase der Besiedlung eher als Verbündete der leiblichen Kinder gesehen worden, zumal sie auch älter als diese gewesen seien. In Krummhörn hingegen habe es eine starke Konkurrenz zwischen den Geschwistern um das Lebensnotwendigste gegeben.
Für das ostfriesische Krummhörn untersuchten die Forscher Daten von rund 14 000 Kindern der Geburtsjahrgänge 1720 bis 1859, für Québec die von knapp 65 000 Kindern, deren Eltern in den Jahren 1670 bis 1750 geheiratet hatten.