Wenn Kinder wieder zu den Eltern ziehen
Hannover (dpa/tmn) - Sie sind längst erwachsen und wohnen wieder bei den Eltern: weil es bequem ist oder weil sie nicht wissen, wohin. Das Zusammenleben unter einem Dach läuft aber selten ohne Konflikte ab.
Denn Eigenständigkeit und Kind sein passen schlecht zusammen.
Im Februar ist Henriette Feesche in eine neue WG gezogen. Ein großes Einfamilienhaus in Hannover mit viel Platz und zwei Mitbewohnern, die ihr Vater und ihre Mutter sind. Nach dem Auszug der Tochter vor zehn Jahren haben die Eltern ihr Zimmer aus Jugendtagen zum Arbeitszimmer umgewandelt, Henriette Feesches neues Reich war zuvor das Gästezimmer. „Meine Mama hat es mir aber ganz süß eingerichtet.“ Sie klingt dankbar.
Hinter der 29 Jahre alten angehenden Juristin liegen grässliche Monate. Anfang des Jahres die Trennung von ihrem Freund, da musste sie schnell raus aus der gemeinsamen Wohnung — nur wohin auf die Schnelle? „Ich war total glücklich, einfach wieder nach Hause kommen zu können.“
Zurück ins Elternhaus — die Wohnform wählen viele Erwachsene aus unterschiedlichen Gründen. Oft sind es Situationen, wie Henriette Feesche sie schildert: Eine Beziehung geht plötzlich in die Brüche, oder der Job ist weg. „In Krisenzeiten ist die Familie ein Rückzugsraum“, sagt der Soziologieprofessor und Familienforscher Dirk Konietzka von der Technischen Universität Braunschweig. In Zeiten des demografischen Wandels müssen oder wollen manche ihre alten Eltern pflegen — und ziehen gleich wieder bei ihnen ein.
Genaue Angaben, wie viele Menschen in Deutschland wieder in den vier Wänden der Eltern leben, gibt es laut Konietzka nicht. Von einem gesamtgesellschaftlichen Trend will er nicht sprechen - das sehe in Italien und Spanien in Zeiten der Schuldenkrise und hoher Arbeitslosigkeit anders aus. In den USA spreche man von den sogenannten Bumerang-Kindern.
Junge Erwachsene nutzen das Hotel Mama besonders dann, wenn sie in einer Übergangsphase stecken. Und ihr Lebenslauf sei heute ja voll von Übergängen, sagt Konietzka: Die Ausbildung oder das Studium sind beendet, das nächste Praktikum, der Auslandsaufenthalt oder die erste Anstellung noch nicht in Sicht.
Das Arrangement berge jedoch viel Konfliktstoff, erläutert Christiane Wempe. Die Entwicklungspsychologin lehrt an der Universität Mannheim. Die Eltern hatten sich nach dem Auszug der Sprösslinge wieder an die Zweisamkeit gewöhnt, die Kinder schon die Erfahrung gemacht, selbstständig zu leben. Trotzdem besteht die Gefahr, wie ihr Kollege Klaus A. Schneewind ergänzt, dass alle in ihr früheres Rollenmuster zurückfallen. Der emeritierte Psychologie-Professor aus München umschreibt es so: „Die Kinder fressen den Kühlschrank leer, und die Eltern wollen ständig wissen, was man abends vorhat.“
Das kommt auch Henriette Feesche bekannt vor. „Mein Handy klingelt, und Mama fragt prompt: "Wer war denn das?"“, erzählt sie. Doch müsse sie zugeben, dass sie selbst im Haushalt kaum einen Finger rühre, die Wäsche mache die Mutter, und niemand verlange von ihr, regelmäßig einzukaufen. „Ich versuche, ab und an zu kochen“, sagt sie kleinlaut.
Trotz mancher Rückfälle in alte Muster: Familie Feesche hat vereinbart, ihre Konstellation als Wohngemeinschaft zu begreifen. „Mit der Idee von einer WG wurden wir alle lockerer“, sagt die Tochter.
Trotzdem könne es bisweilen problematisch werden, glaubt Andreas Engel, stellvertretender Vorsitzender der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke). „Man kann auch sein Kind klein halten, indem man es überversorgt“, warnt der Psychologe. Er hat Bedenken, was ein langfristiges Zusammenleben zwischen Eltern und erwachsenen Kindern betrifft. „Man könnte sogar so weit gehen zu sagen: Die Eltern sind an ihrer Erziehungsaufgabe gescheitert, die darin besteht, dass ihr Kind selbstständig wird und sich von den Eltern lösen kann.“
Nach Ansicht von Psychologe Schneewind sollten Eltern und Kinder vor dem Zusammenziehen klare Regeln aufstellen: Wer putzt wann, wer kauft ein? Jeder müsse seinen Freiraum bewahren. Auch die Frage der Finanzen dürfe nicht unter den Tisch fallen. Familien könnten sich zur Unterstützung an Ehe- und Lebensberatungsstellen wenden, empfiehlt Psychologe Engel.
Familie Feesche hatte aus Sicht von Henriette keinen Bedarf, sich Hilfe von außen zu holen. „Wir haben Probleme schnell angesprochen — und immer die Kurve gekriegt“, sagt sie. Nur aufs Lernen habe sie sich zu Hause, einem Raucherhaushalt, nicht konzentrieren können: „Meine Mutter raucht für drei“, klagt Henriette.
In den nächsten Wochen kann sie aber wieder Frischluft in den eigenen vier Wänden atmen. Sie zieht nach Hamburg, dort will sie ihr Referendariat fortsetzen. Einmal wöchentlich besucht sie einen Kurs in Hannover und wird wieder zu ihren Eltern in die WG kommen. „Das ist gut, dann können wir uns langsam voneinander entwöhnen.“