„Wer Sorgen hat, hat auch Likör“ - Senioren in der Alkoholfalle
München (dpa) - „Es ist ein Brauch von alters her, wer Sorgen hat, hat auch Likör.“ Der Spruch der Frommen Helene von Wilhelm Busch bringt Alkoholmissbrauch auf den Punkt. Und weil der Kummer im Alter nicht weniger wird, sind Senioren ebenso gefährdet wie Jüngere.
Der Tag begann für die Rentnerin um 7.00 Uhr morgens. Mit Wodka. Dann ein Spaziergang - zum nächsten Laden. Für den nächsten Flachmann. Im selben Geschäft zu kaufen wäre ihr peinlich gewesen - Scham gehört zum Alkoholismus. Einen Monat nach dem Tod ihres Mannes rutschte die 72-Jährige tief in die Sucht. „Ich habe damals gesagt: Ich bin der Welt abhandengekommen. Ich hatte keine Freude mehr am Leben und keinen Sinn.“ Heute ist sie trocken.
Alkoholismus und Senioren - das Thema ist in Arztpraxen und beim Pflegepersonal oft nicht präsent. Die ältere Dame, die torkelt und stürzt, der Senior, der undeutlich spricht, die Rollstuhlfahrerin, die vergesslich geworden ist - wer kommt schon auf die Idee, dass sie alle ein Gläschen zu viel getrunken haben könnten?
Doppelherz, Klosterfrau Melissengeist, Buerlecithin - einiges, was als Stärkungsmittel für ältere Menschen angeboten wird, enthält Alkohol, wie Christa Merfert-Diete von der Hauptstelle für Suchtfragen sagt. Gepaart mit bestimmten Medikamenten und insbesondere Schlafmitteln brächten solche Geriatrika neue Suchtgefahren. „Das kann zu einer Abhängigkeitspotenzierung führen“, warnt sie. Und: „Ein alter Körper verträgt weniger.“ Immerhin nehmen viele Senioren ohnehin eine Vielzahl an Arzneien ein.
Ein Drittel aller Männer und jede fünfte Frau im Alter zwischen 65 und 79 Jahren konsumieren einer Studie des Robert Koch-Instituts zufolge in riskantem Umfang Alkohol. Das bedeutet: mehr als der Gesundheit gut tut. Bei Frauen liegt die Grenze bei 10 bis 12 Gramm reinem Alkohol pro Tag. Das entspricht etwa 0,1 Liter Wein und Sekt oder 0,25 Liter Bier. Bei Männern gilt etwa die doppelte Menge.
Trotz der alarmierenden Zahlen fehlen Experten zufolge ausreichende und passende Behandlungsangebote. Oft gebe es mit Blick auf Senioren die Meinung: „Dann soll man ihnen doch den Alkohol lassen bis zum Tod“, sagt der Suchtforscher Gerhard Bühringer, der an der Technischen Universität Dresden lehrt und das private Münchner Institut für Therapieforschung leitet.
Die Wissenschaftler wollen zusammen mit Kollegen in Dänemark und den USA älteren Patienten helfen. Bei dem Projekt „Elderly“ sollen Betroffene in vier bis zwölf Terminen den Sprung zu einem abstinenten Leben schaffen. Damit solle auch gezeigt werden, dass nicht unbedingt eine jahrelange Therapie oder ein stationäres „Wegschließen“ nötig sei, heißt es.
Der Suchthilfeverein Prop und die Caritas setzten das Konzept in ihren Beratungsstellen in Oberbayern um. „Wir wünschen uns, dass mehr ältere Menschen zu uns finden“, sagt Prop-Geschäftsführer Andreas Czerny. „Die Scham ist gerade bei dieser Gruppe ein schwierig kalkulierbares Moment.“ Eine Studie an 1200 Betroffenen soll die neue Kurzzeitbehandlung begleiten. Je 200 Menschen in München und Dresden und 400 Menschen in Dänemark sowie den USA werden den Angaben zufolge teilnehmen.
Die Abkehr vom Alkohol gelingt vor unterschiedlichen Hintergründen. Es sei unter anderem das Verhältnis zu ihrem Sohn gewesen, sagt die 72-jährige Ex-Lehrerin, die anonym bleiben möchte. Aber: „In erster Linie war ich physisch am Ende.“ Sie ist sicher: „Wäre ich im Berufsleben gestanden, wäre mir das nicht widerfahren.“ Reinhard Pribyl stand hingegen mitten im Berufsleben. Vor 22 Jahren konnte er aufhören - bei ihm war der Druck des Arbeitgebers entscheidend. „Das war der Knackpunkt - da bin ich aufgewacht“, sagt der 61-Jährige, der sich heute als stellvertretender Vorsitzender im Kreuzbund Diözesanverband für andere Alkoholkranke einsetzt.
Auch die ehemalige Lehrerin engagiert sich für andere, in der Kinderbetreuung und Hausaufgabenhilfe. „Das ist wichtig - da werde ich noch gebraucht.“ Konzepte gegen Einsamkeit und Sinnentleerung - Alkoholmissbrauch bei Senioren hat oft andere Auslöser als bei Jüngeren, und der Weg heraus ist oft ein etwas anderer.
Es gebe eine Reihe Menschen, die mit dem übersteigerten Alkoholkonsum erst im späteren Leben anfangen, sagt Merfert-Diete von der Hauptstelle für Suchtfragen. Die Gründe: Verlust des Partners, Einsamkeit, der Umbruch mit Beginn des Rentenalters. „Es gibt persönliche Schicksalserlebnisse, die auch dazu führen können, dass jemand verstärkt anfängt zu trinken“, sagt sie. Senioren könnten ihr Leben auch besser als Jüngere dem Alkohol anpassen. Etwa: „Ich muss jetzt nicht aufpassen - ich fahre nicht mehr Auto.“
Vor allem aber sei das Nervengift Alkohol in der Gesellschaft vollkommen anerkannt. Die höfliche Floskel an den Besuch laute: „Was möchtest du trinken? Und dann ist es in der Regel ein alkoholisches Getränk, das angeboten wird.“ Oder man gehe „auf ein Bier“. Und die Seniorin bekommt von der Freundin schon morgens ein Glas Sekt serviert. Für den Kreislauf. „Damit Du wieder in Schwung kommst.“