Forscher: Hartz IV wirkt für Betroffene wie ein Stigma
Jena (dpa) - Eine Studie der Universität Jena bescheinigt den Hartz-Reformen fatale Folgen. Nicht nur, dass Hartz-IV-Empfänger stigmatisiert werden. Die Instrumente der Arbeitsverwaltung führen demnach auch eher zu Passivität, als dass sie zu mehr Engagement anstacheln.
Mit dem Grundsatz des Forderns und Förderns sollen Langzeitarbeitslose in Arbeit gebracht werden, doch laut einer Studie haben die Hartz-Reformen das Gegenteil bewirkt. „Die Hartz-IV-Logik erzeugt Passivität, wo sie Aktivierung vorgibt“, sagte der Jenaer Arbeitssoziologe Klaus Dörre im Interview. Das Stigma Hartz IV sei für die Betroffenen zudem vergleichbar mit dem schwarzer Hautfarbe im Süden der USA. Für die qualitative Untersuchung wurden Hartz-IV-Bezieher über einen Zeitraum von sieben Jahren wiederholt befragt.
Ihre Studie bescheinigt den Hartz-Reformen eine fatale Bilanz - warum?
Antwort: Der entscheidende Punkt ist, dass die aktivierende Arbeitsmarktpolitik nichts aktiviert. Der Anspruch ist gewesen, dass man die Erwerbsorientierung der Betroffenen verändern kann und dies umso besser, je ungemütlicher man die Erwerbslosigkeit gestaltet. Dabei wird ausgeblendet, dass die Erwerbsorientierung im Laufe des Lebens angeeignet wird, relativ stabil ist und nicht einfach umgeformt werden kann.
Allerdings würde der Großteil der Bevölkerung den Grundsatz des Forderns und Förderns wohl unterschreiben.
Antwort: Den Hartz-Reformen liegt das Bild zugrunde der faulen, passiven Langzeitarbeitslosen, die es sich in der Hängematte des Wohlfahrtsstaates bequem machen. Das können wir nicht feststellen. Das Gros der Erwerbslosen und prekär Beschäftigten im Leistungsbezug ist von sich aus aktiv. Die Aktivierungsbemühungen gehen an ihnen vorbei und nutzen ihnen wenig bis gar nichts. Es gibt lediglich eine kleine Gruppe mit einem Anteil von acht bis zehn Prozent der Leistungsbezieher, die nicht mehr kann und nicht mehr will. Bei ihnen kann man auch mit Sanktionen nicht viel bewirken. Deswegen ist ein solch teurer Überwachungsapparat unsinnig. Eine reiche Gesellschaft muss so eine Gruppe aushalten.
In Ihrer Untersuchung stellt sich Hartz IV als Teufelskreis dar, dem man kaum entrinnen kann, wenn man einmal drin ist.
Antwort: Was wir finden ist, dass es für kaum einen Befragten Verbesserungen gegeben hat. Den Sprung aus dem Leistungsbezug haben ganz, ganz wenige in unserem Sample geschafft. In den sieben Jahren haben wir bei manchen zehn, zwölf Stationen - Ein-Euro-Job, Praktikum und Ähnliches - am Ende ist man aber immer wieder im Leistungsbezug. Man strampelt enorm, wendet enorme Energie auf, kommt aber nicht von der Stelle. Es gibt eine größer werdende Gruppe von Menschen, die an oder unterhalb der Schwelle der Respektabilität lebt - das ist Hartz IV - und sie kommen da nicht mehr heraus.
Welche Folgen hat Hartz IV für die Betroffenen in der Gesellschaft?
Antwort: Hartz IV wirkt wie ein Stigma. Das Zusammenlegen von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe wurde verkauft als Besserstellung von Sozialhilfebeziehern. Das Gegenteil ist richtig. Der springende Punkt ist, dass etwa Frauen im Osten, die lange berufstätig waren und dann herausfallen, sich jetzt wahrnehmen als Leute, die gewissermaßen unter die Schwelle der Respektabilität gedrückt werden, auf eine Stufe gestellt werden mit Sozialhilfebeziehern. Das ist eine enorme Kränkung. In der Gesellschaft als „Hartzi“ identifiziert zu werden, ist ähnlich wie dunkle Hautfarbe zu haben im Süden der USA. Das ist ein Stigma, das an einem haftet, das man nicht los wird und mit dem man in Alltagssituationen immer wieder konfrontiert wird.
Sie sprechen davon, dass Hartz-IV-Empfänger Verhaltensweisen entwickeln, die sie selbst immer mehr abschotten von der übrigen Gesellschaft.
Antwort: Je länger man im Hartz-IV-Bezug bleibt, desto stärker ist man gezwungen, sich mit materieller Knappheit und fehlender Anerkennung zu arrangieren. Sie meiden Leute, die Arbeit haben, weil sie nicht wollen, dass das Gespräch auf ihre Situation kommt; sie gehen nicht mehr in die Kneipe, weil sie ihrem Bekannten kein Bier ausgeben können. Man trifft sich immer häufiger mit seinesgleichen und entwickelt einen Überlebenshabitus, der der Gesellschaft die Stigmatisierung erleichtert. Das führt dazu, dass man sich immer weiter isoliert und es immer schwerer wird, zur Mehrheitsgesellschaft zu gehören. Das ist eine Spirale nach unten.
Welche Konsequenzen müssen aus Ihrer Sicht gezogen werden?
Antwort: Der erste Schritt müsste sein, die Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger aufzuheben. Ein solcher Gängelungsapparat, der bis in private Lebensbereiche hineinwirkt, ist unsinnig und rechtfertigt die Kosten nicht. Der zweite Punkt ist: Es muss sinnvolle Beschäftigung geschaffen werden. Es gibt im Dienstleistungssektor großen Nachholbedarf bei pflegenden, erziehenden und bildenden Tätigkeiten. Und wir brauchen einen gesetzlichen Mindestlohn.