Kneipe, Kirmes, Kino: Als das große Konsumieren begann
Berlin (dpa) - Spaß und Geldausgeben - heute gehört das für viele Shopper, Ausgeher und Ausflügler untrennbar zusammen. Die Liaison von Freizeit und Konsum begann vor 100 Jahren.
Ein Bierchen mit Freunden, ein Tag im Wellnessbad, ein Abend im Kino, ein Wochenendausflug: Viele lassen sich Freizeit gerne was kosten. Freizeit und Konsum - diese Allianz begann ziemlich genau vor 100 Jahren, wie Kulturwissenschaftler Wolfgang Kaschuba erklärt. Er berichtet von Gemeinsamkeiten, aber auch großen Unterschieden.
1914: Mehr Deutsche als jemals zuvor leben in städtischem Trubel. „Die Städte wachsen dramatisch. Es ist der Auftakt der Moderne vor dem Ersten Weltkrieg“, sagt der Berliner Völkerkundler. Das Leben pulsiert: Strom fließt, die Städte sind abends erleuchtet. Viele Menschen ziehen vom Land in die Stadt. Und sie genießen dort die neuen Freiheiten jenseits der sozialen Kontrolle von Pfarrer, Lehrer und Eltern. Frauen dürfen sogar mit fremden Männern tanzen, die sie nicht heiraten wollen.
Die ersten Kinos sind die Sensation: Berlin, Hamburg, Köln, München - vor den Lichtspielhäuser stehen am Abend Menschentrauben - auch Dienstmädchen, Arbeiterinnen und Tagelöhner. Erste Monumentalfilme wie „Quo Vadis“ flimmern über die Leinwand. „Das ist die große Revolution in der Zeit unmittelbar von 1914: Das Kino als neues Massenmedium“, sagt der Wissenschaftler.
Kneipe, Kirmes, Kino - diese „drei Ks“, wie Kaschuba sagt - sind die Freizeitbeschäftigungen der einfachen Leute. In allen Großstädten gibt es Rummelplätze, die Kneipenszene blüht. „Arbeiter und Arbeiterinnen sind vielfach ledig, sind ledig eingewandert in die Städte und haben - wie wir wissen - ein relativ freizügiges Sozial- und Kontaktleben.“
Arbeiterbibliotheken machen auf. Viele betreiben am Wochenende Sport. In der Mittel- und Unterschicht wird schon Fußball gespielt. Bei den Massenveranstaltungen ist Fußball dagegen noch nicht so populär, wie die Oldenburger Historikerin Gunilla Budde berichtet. „Es ist die Zeit der großen Massenveranstaltungen sportlicher Art“, sagt sie. Zu Radrennen und Leichtathletik ziehe es die Leute damals. „Fußball, aus England kommend, galt noch nicht als salonfähig.“
Auch das ist neu: Junge Frauen aus dem Kleinbürgertum haben eigenes Geld, das sie für ihr Vergnügen ausgeben können. Zwischen Schulabschluss und Hochzeit haben sie einen Job, arbeiteten vielleicht als Tippmamsells in den Büros oder als Ladenmädchen in den aufblühenden Geschäften oder Warenhäusern. „Sie wohnten bei den Eltern und hatten etwas Geld in der Hand, was relativ neu war für junge Frauen“, sagt die Bürgertum-Expertin. Die jungen Frauen der Zeit vor 1914 treffen sich im Kaffeehaus, gehen ins Kino oder ins Theater.
Bei Adeligen und Bürgern gibt es regelmäßige Treffen im Familienkreis, man gibt Diners, besucht gemeinsam das Theater oder die Oper. „Viele Bürger waren in mehreren Vereinen aktiv, jeder Abend galt einem anderen Engagement.“ Das waren Lesegesellschaften, Kunstvereine, Musikvereine. Es gab ein lebhaftes Vereinsleben in allen Klassen, aber: Man blieb weitgehend unter sich.
Heute spiele sich die Freizeit bei den nicht mehr ganz Jungen wieder mehr in den eigenen vier Wänden ab, meint Budde: „Ich habe den Eindruck, dass die Vereinstätigkeit abgenommen hat in den letzten Jahren und eine Individualisierung der Freizeitgestaltung eingesetzt hat, auch wegen der Technisierung.“ Tatsächlich geht die Zahl der Vereinsmitglieder nach unten, wie jetzt eine Studie der Stiftung für Zukunftsfragen ergab: Nicht einmal jeder zweite Deutsche engagiert sich noch in einem Verein (44 Prozent).