Bangen, hoffen, verdrängen: Leben mit einem Frühchen
Berlin (dpa) - Wenn ein Baby viel zu früh zur Welt kommt, können Mediziner heute mehr Leben retten als früher. Doch die Frage ist immer, was dann kommt - und ob Eltern dem extremen Wechselbad der Gefühle gewachsen sind.
Für Miriam Ebel ist es wieder einer dieser Tage in der Parallelwelt. Das Krankenhaus und ihr Frühchen, das ist ihr Drinnen-Universum. Der Alltag, das gewohnte Leben jenseits der Baby-Intensivstation, das Draußen. „Ich habe ein Kind und ich habe es doch nicht“, beschreibt die 31-Jährige Mutter ihre Zerrissenheit. Mit 24 Wochen ist ihr Sohn Paul Anfang September zur Welt gekommen, 880 Gramm leicht, nur wenig größer als eine Hand.
Früher hätte Paul keine Chance gehabt. Heute lebt er dank der vielen Fortschritte in der Kindermedizin. Doch wie es mit ihm weitergeht, kann niemand voraussagen. Erst Weihnachten hätte Paul auf die Welt kommen sollen. In der Parallelwelt ist Weihnachten so weit weg wie der Mond.
Zu klein, zu leicht, zu unreif: Rund 60 000 Babys kommen in Deutschland nach Angaben der Gesellschaft für Kinderchirurgie zu früh zur Welt - das sind neun Prozent aller Neugeborenen. Die Frage aber lautet heute: wie früh?
40 Wochen dauert eine reguläre Schwangerschaft. Kommt ein Kind einen Monat früher, ist das kein Drama. Doch die Hälfte dieser Zeit ist die absolute Grenze. Ab der 22. Woche könne ein Frühchen lebensfähig sein, sagt Sylvester von Bismarck, Kinderchirurg am Berliner Vivantes-Klinikum Neukölln. Doch da ist immer auch die Statistik. Ein Drittel der Frühchen, die zwischen der 22. und 24. Woche geboren werden, haben ein Leben lang Behinderungen. Ein Viertel schafft es nicht.
Doch wenn ein Baby zwischen der 24. Woche und der 32. Woche zur Welt kommt - in der Regel zwischen 400 und 1500 Gramm leicht - hilft keine Statistik. „Es kann morgen sterben, in drei Wochen oder in 80 Jahren“, sagt von Bismarck. Was für Ärzte, Schwestern und Pfleger auf der Baby-Intensivstation mit grauen Brutkästen statt bunter Kinderbettchen Alltag scheint, ist für junge Eltern ein Schock. „Manche können diesen Konflikt zwischen Drinnen und Draußen für sich nicht auflösen“, sagt der Kinderchirurg. Dann fehlt das gute Gefühl: Das ist mein Kind.
Auch Miriam Ebel hat bewusst nicht auf die Ultraschallbilder geschaut, als ihr Baby nach nur 19 Wochen plötzlich in die Geburtslage rutscht. „Ich dachte, dieses Kind sehe ich sowieso nicht“, erinnert sie sich. Drei Fehlgeburten liegen hinter ihr, ein weiteres Kind verlor sie in der 18. Woche. Nun kommt ein Gummiring um den Muttermund, Ärzte schieben die Fruchtblase wieder zurück. Miriam Ebel muss ruhig liegen, sie bekommt trotzdem immer wieder Blutungen - und Infektionen. Die Angst, auch dieses Kind zu verlieren, ist immer da.
Zum Schluss ist eine Antibiotikabehandlung Pauls Glück. Miriam Ebel ist dafür zufällig in der Neuköllner Klinik, als er in der 24. Woche in aller Eile per Kaiserschnitt geholt werden muss. Es ist der 9. September. Wäre Miriam Ebel im „Draußen“ gewesen, hätte Paul wahrscheinlich nicht überlebt.
Anfang November wiegt Paul 1,4 Kilo. Er ist immer noch ein winziges Bündel Mensch, zart wie ein Püppchen. Er braucht noch künstlichen Sauerstoff. Eine Sonde ernährt ihn mit abgepumpter Muttermilch, zum Trinken ist er viel zu schwach. Einmal am Tag liegt Paul mit seinem Atemschlauch auf Miriam Ebels Bauch. Er bekommt Geschichten erzählt oder vorgelesen. „Ich fand ihn nach der Geburt ziemlich schnell ziemlich süß“, sagt sie. „Ich glaube, er weiß, dass ich seine Mutter bin.“ Die Säuglings-Bilder im Kopf haben sich verschoben. Wenn sie Neun-Monats-Babys sieht, denkt sie: was für Riesenklopper.
Den größten Teil seines Lebens verbringt Paul weiterhin im Brutkasten, Elektroden überwachen Atmung und Herzschlag. Wenn etwas nicht stimmt, geht der Alarm los. Sieht es nicht gut aus, ruft die Klinik die Eltern an. Das Klingeln des Telefons ist zum Horrorgeräusch geworden, vor allem nachts. „Ein paar Mal habe ich gedacht, er stirbt“, sagt die junge Frau leise.
Wenn es ein Frühchen auf der Intensivstation nicht schafft, spüren das alle. „Das Schicksal anderer Eltern geht extrem nah“, sagt Ebel. Es könnte ja auch ihr Baby sein, immer noch. Auch Ärzte und Schwestern müssen lernen, mit solchen extremen Schmerz- und Trauersituationen umzugehen. „Am besten ist es, wenn ein Kind bei seinen Eltern sterben kann“, sagt Kinderchirurg von Bismarck.
Miriam Ebel lebt seit dem 9. September von Tag zu Tag. Manchmal fühle sich das an wie auf Auto-Pilot, sagt sie. Funktionieren - und verdrängen. „Natürlich will ich kein schwerbehindertes Kind“, sagt sie. Doch wenn Paul später langsamer wäre als andere, wenn er eine Lese- oder Rechenschwäche hätte oder kein guter Sportler würde - es wäre ihr und ihrem Mann völlig egal. „Wenn wir es bis hierhin geschafft haben, dann schaffen wir es auch weiter“, ergänzt sie.
Paul musste bisher nicht operiert werden. Er hatte keine der gefürchteten Hirnblutungen, bei denen die unreifen Gefäße eines extremen Frühchens bei Blutdruckschwankungen platzen - eine hohe Wahrscheinlichkeit für bleibende Behinderungen. Für manche Komplikationen wie einen Darmdurchbruch ist Paul, so seltsam das klingt, nun schon zu alt. Miriam Ebel hat lange überlegt, ob sie einen Kinderwagen kaufen soll. Jetzt hat sie einen bestellt - Lieferzeit sechs Wochen. Dann ist Weihnachten.