Contergan: Eine einzige Tablette reichte aus
Vor 50 Jahren kam Contergan auf den Markt – das Schlafmittel, das Babys tausendfach zu Krüppeln machte.
Düsseldorf. Die zierliche Frau mit den lockigen Haaren lächelt. Zur Begrüßung streckt sie ihre Schulter hin und den angewachsenen Finger. Regina Kolshorn ist ohne Arme zur Welt gekommen. Ahnungslos nahm die Mutter Contergan, als sie schwanger war. Regina Kolshorn will kein Contergan-Opfer sein. "Schreiben Sie nur ja nicht: Sie meistert ihr Leben. Ich bin ein Mensch wie jeder andere auch", hatte sie vor dem Treffen am Telefon klargestellt.
Im geräumigen Wohnzimmer setzt sie sich auf die Couch und legt die nackten Füße hoch. Socken trägt sie nur, wenn es richtig kalt ist. Und dann sind es selbstgestrickte mit einem "Däumling" für die große Zehe. Die Füße sind ihre Hände. Schon immer.
"Auf Fotos bin ich als Kind mit dem Milchfläschchen zu sehen. So wie andere Kinder die Flasche mit der Hand halten, halte ich sie mit den Füßen."
Vor 50 Jahren, am 1. Oktober 1957, brachte das Aachener Pharmaunternehmen Grünenthal das Schlafmittel Contergan auf den Markt. Es durfte rezeptfrei vertrieben werden. Zu Abhängigkeiten führe es nicht. Der Wirkstoff Thalidomid zeichne sich durch eine hohe, den Schlaf fördernde Wirkung aus. Das Mittel schien besonders gut verträglich zu sein und wurde vor allem Schwangeren empfohlen.
Das war der Beginn einer einzigartigen Katastrophe, deren Leid sich tausendfach in den Familien wiederholte: Kinder kamen zur Welt, ohne Arme, ohne Beine, mit verkürzten Gliedmaßen, mit Missbildungen an Organen und Knochen.
Als Grünenthal Contergan am 27. November 1961 vom Markt nahm, waren allein in Deutschland etwa 5000 missgebildete und behinderte Kinder zur Welt gekommen, weltweit sollen es 10 000 sein. Wie sich später herausstellte, reichte schon eine einzige Tablette, um das Wachstum der Gliedmaßen des Embryos zu unterbrechen.
Regina Kolshorn (46) spricht ohne Spur von Bitterkeit. Sie erzählt von der unbeugsamen Grundschullehrerin, die damals alle Aachener Gymnasien abklapperte und schließlich zwei Schulen fand, die sie und andere "Contergan-Kinder" aufnahm. Nach dem Abi fand sie einen Arbeitsplatz als mathematisch-technische Assistentin.
Der Führerschein, ja das war ein dickes Problem, weil sie in keine bürokratische Kategorie passte. Der beharrlichen Mutter hat sie es zu verdanken, dass sie ihn heute hat. Sie fährt ein Auto mit Spezialausstattung. Der Umbau hat 20 000 Euro gekostet.
Hans Helmut Günter (72) kann sich noch an ganz viele Details erinnern. Nach fast 40 Jahren. Ihm kommen die Namen in den Sinn - der Verteidigung, des Gerichts, der vielen Zeugen. Die Bilder aus dem Casino Anna in Alsdorf, das damals provisorisch als Gerichtssaal genutzt wurde. Nichts ist weg.
Günter war einer von drei Anklägern im Contergan-Prozess, der gut zehn Jahre nach der Markteinführung des Schlafmittels begann. Es war das bis dahin aufwändigste und längste Verfahren der deutschen Rechtsgeschichte: Rund 400 Ordner mit Ermittlungsakten. Hunderte von Fällen missgebildeter Kinder waren erfasst. Ausgewiesene Experten saßen im Zeugenstand.
Ein Mann ist Günter besonders in Erinnerung geblieben: Widukind Lenz, Hamburger Kinderarzt und Privatdozent für Humangenetik. Von 1959 an hatte es aus der Bevölkerung vermehrte Hinweise über furchtbare Missbildungen bei Neugeborenen gegeben. Die wurden damals nicht zentral erfasst. Der junge Wissenschaftler Lenz ging den Hinweisen hartnäckig nach.
Am 15. November 1961 teilte er Grünenthal telefonisch seine Vermutung mit, dass Contergan möglicherweise zu den Missbildungen führt. Da er keine befriedigende Antwort bekam, bekräftigte er seine Befürchtungen in einem Brief an die Aachener Pharmafirma.
Prozess Das Verfahren gegen acht Angestellte und den Inhaber der Firma Grünenthal, Hermann Wirtz, wird nach 283 Verhandlungstagen wegen geringer Schuld der Angeklagten eingestellt. Grünenthal verpflichtet sich, 100 Millionen Mark zu zahlen. Der Bund steuert die gleiche Summe bei. Aus dem Fonds werden den Opfern Renten bezahlt, zwischen 121 und 545 Euro monatlich.