Kinderarzt: Pflichttermin für alle
Etwa 35 000 Kinder werden in Deutschland vernachlässigt. Deshalb sind Experten für Regel-Untersuchungen.
Düsseldorf. Jede Woche sterben zwei bis drei Kinder an Misshandlungsfolgen. Viele dieser schrecklichen Fälle ließen sich verhindern, wenn die Vorsorgeuntersuchungen Pflicht wären, sagt der Düsseldorfer Kinder- und Jugendarzt Hermann-Josef Kahl, Präventionsbeauftragter seines Berufsverbandes im Bereich Nordrhein.
Westdeutsche Zeitung: Herr Kahl, wie könnte sich eine solche Pflicht umsetzen lassen?
Hermann-Josef Kahl: Ein guter Weg wäre eine Art Meldesystem in Verbindung mit dem Gesundheitsamt. Eltern, die zur Vorsorge kommen, erhalten vom Arzt eine Bestätigung, die sie dann beim Gesundheitsamt einreichen. Wer das nicht tut, würde vom Gesundheitsamt angerufen, bei fehlender Erreichbarkeit persönlich besucht. Das hat den Vorteil, dass dort Ärzte arbeiten und die gebotene Schweigepflicht die Familien und damit die Kinder schützt.
WZ: Wie viele Kinder könnten Sie so besser schützen?
Kahl: Wir schätzen, dass mindestens fünf Prozent aller Kinder gefährdet sind. Das sind fünf bis zehn Familien bei jedem Kinderarzt. Wir achten bereits jetzt sehr auf Familien, die materielle und soziale Probleme haben, rufen diese an und vermitteln Hilfsmöglichkeiten. Mit einem regelrechten Screening wären wir noch weiter: Wenn alle Eltern beim Kinderarzt einen Fragebogen ausfüllen müssten, könnte man Gefahren erkennen und erreichen, dass betroffene Eltern häufiger kommen.
WZ: Was müsste in diesem Fragebogen stehen?
Kahl: Ein verstärkte Beobachtung und Versorgung sollte erfolgen, wenn die Eltern sehr jung sind oder sehr arm, wenn sie selbst eine Gewalterfahrung haben oder suchtkrank sind, wenn sie psychisch krank sind, das Kind nicht gewollt war oder wenn sie ein sehr niedriges Bildungsniveau haben.
WZ: Das sind sensible Fragen.
Kahl: Natürlich muss die ärztliche Schweigepflicht gewährleistet sein. Die Ärzte dürfen nicht zu einem staatlichen Kontrollorgan werden, das untergräbt das Vertrauensverhältnis zum Patienten. Aber es gibt eine ganze Menge Dinge, die man tun kann, ohne die betroffenen Familien zu verängstigen oder zu stigmatisieren.
WZ: Wäre es wirksam, das Kindergeld zu kürzen, wenn man nicht zur Vorsorge geht?
Kahl: Nein, wider Erwarten nicht. Einige Länder haben das ausprobiert, das hilft nicht. Leider gibt es in Deutschland keine einheitliche Linie. Im Saarland etwa ist die Pflicht zur Vorsorgeuntersuchung gerade eingeführt worden.
WZ: Bisher kommen im ersten Lebensjahr eines Kindes 95 Prozent aller Eltern zu den Vorsorgeuntersuchungen, danach sinkt die Quote auf etwa 80 Prozent bei den Fünfjährigen. Woran liegt das?
Untersuchung1: Sofort nach der Geburt: Der Arzt überprüft Atmung, Herzschlag, Muskelspannung und Bewegung.
U2: Zwischen dem vierten und sechsten Lebenstag: Erste kinderärztliche Grunduntersuchung, bei der auch Blut entnommen wird, um Stoffwechselstörungen zu erkennen.
U3: Zwischen der vierten und sechsten Lebenswoche: Der Arzt überprüft Gewicht und Ernährung, das Seh- und Hörvermögen, untersucht die Hüftgelenke und ob das Kind sich altersgerecht bewegt.
U4: Im dritten oder vierten Lebensmonat: Der Arzt überprüft die körperliche und geistige Entwicklung. Erste Impfungen (u.a. gegen Kinderlähmung, Tetanus, Diphtherie, Keuchhusten und Hepatitis B)
U5: Im sechsten oder siebten Lebensmonat: Der Arzt überprüft die Bewegungsfähigkeit. Erste Wiederholungs-Impfungen
U6: Vor dem ersten Geburtstag: Der Arzt überprüft die motorische Entwicklung des Babys. Weitere Impfungen, u.a. gegen Masern, Mumps und Röteln.
U7: Vor dem zweiten Geburtstag: Der Arzt prüft, wie gut das Kind alleine gehen kann, untersucht die Sinnesorgane, die Feinmotorik und den Wortschatz.
U7a: Zusatzangebot zum 3. Geburtstag: Der Arzt prüft den Spracherwerb und die kognitive Entwicklung, das Allergie-Risiko und mögliches Übergewicht.
U8: Dreieinhalb bis vier Jahre: Der Arzt überprüft die körperliche Geschicklichkeit und die Sprachentwicklung. Kann das Kind in ganzen Sätzen sprechen? Wie selbstständig und kontaktfähig ist es?
U9: Fünf bis fünfeinhalb Jahre: Vor der Einschulung prüft der Arzt das Sozialverhalten, die psychische und emotionale Entwicklung, die Fortentwicklung der Sprache, das Sehen und Hören, Größe und Gewicht.
U10: und U11 Zusatzangebot für 7-/8-Jährige und 9-/10-Jährige: Der Arzt prüft das Medienverhalten und die sportliche Bewegung, vor allem aber mögliche Entwicklungsstörungen, um Lese-Rechtschreib-Schwächen oder ADHS zu erkennen
J1: 13 bis 14 Jahre - Der Teenager-Check: Hier prüft der Arzt, ob Übergewicht, Allergien, Bluthochdruck oder Seh- oder Haltungsschäden vorliegen. Der Impfstatus wird überprüft und die Gefährlichkeit von Drogen angesprochen.
Fristen: Halten Eltern die Fristen nicht ein, übernimmt die Krankenkasse die Kosten nicht