Die vergessenen Kinder der Alkoholiker
Frankfurt/Main (dpa) - Sie lernen das Koma-Saufen nicht in der Disco, sie kennen es aus dem Wohnzimmer: Rund 2,65 Millionen Kinder wachsen in Deutschland bei alkoholabhängigen Eltern auf. Ein neues Hilfskonzept könnte helfen.
Die betrunkene Mutter bringt das Pausenbrot in die Schule, der Vater droht im Rausch mit Schlägen: Neun Nachmittage sprach die Kasseler Sozialpädagogin Michaela Jung mit sechs Kindern alkoholabhängiger Eltern über den Alltag in Suchtfamilien. Bei ihr im Diakonischen Werk erlebten die Heranwachsenden, dass sie nicht alleine sind.
Ähnliche Gruppen gab es in den vergangenen zwei Jahren bei insgesamt bundesweit 28 Beratungsstellen. Sie waren Partner des vom Bund finanzierten Modellprojekts „Trampolin“. Forscher aus Köln und Hamburg sehen in dem Konzept die Chance, mehr Betroffenen zu helfen. 2,65 Millionen Kinder in Deutschland leben Expertenschätzungen zufolge bei alkoholabhängigen Eltern.
Doch Therapien für abhängige Eltern bezögen nur in zehn Prozent der Fälle die Kinder mit ein, sagt Professor Michael Klein. Er ist Leiter des Deutschen Instituts für Sucht- und Präventionsforschung der Katholischen Fachhochschule Köln. Kinder Alkoholabhängiger erlebten häufig Chaos und Gewalt. Jedes dritte dieser Kinder werde später selbst süchtig, erklärte Klein am Donnerstag (29. September) beim Deutschen Suchtkongress (28.9. bis 1.10.) in Frankfurt.
Einer, der in einer Suchtfamilie aufwuchs, ist Henning Mielke. „Meine Eltern waren für mich emotional nicht erreichbar“, erinnert sich der 43-Jährige. Als Vorsitzender von Nacoa, einem Interessenverband für Kinder aus Suchfamilien, weiß der in Berlin lebende Mielke heute, dass er kein Einzelfall war. Während der Alkoholkranke an die Sucht denke, kümmerten sich die Kinder um Geschwister und Haushalt, berichtet er.
Das Ziel des „Trampolin“-Angebots beschreibt Suchtforscher Klein darum auch so: „Die Kinder sollen lernen, für sich selbst zu sorgen und nicht wie bisher für die Eltern.“ Das von ihm und der Uni-Klinik Hamburg-Eppendorf initiierte Modell mit je neun Gruppentreffen soll die Hilfe erleichtern. Es ist überschaubarer und günstiger als eine Einzelbetreuung, die zumeist nur den Süchtigen selbst im Blick hat.
„Das Hauptproblem war, die Kinder zu finden“, berichtet Sozialpädagogin Jung aus Kassel. Das Thema sei ein Tabu für Eltern, Lehrer, Erzieher - und für die Kinder. „Selbst, wenn in einer Klasse drei Schüler sind mit diesem Problem, tauschen sie sich ja nicht aus“, sagt Jung. In Kassel knüpften Jugendamt und ambulante Suchtberatung die Kontakte.
Bei den neun Treffen erhielten die Acht- bis Zwölfjährigen Alltagstipps und Informationen über Sucht. Es gab Rollenspiele und Fantasiereisen. Beraterin Jung sprach auch mit den Eltern: „Das gemeinsame Ziel ist, dass es den Kindern gut geht - das wollen auch Eltern, die ein Problem haben.“
Trotzdem ist unklar, wie viele Kinder noch von „Trampolin“ profitieren. 2012 endet das Modellprojekt. Und Geld für Angehörigen-Arbeit gebe es meist nicht, beklagt die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen. Das Diakonische Werk Kassel will die Kinder trotzdem nicht alleine lassen. Beraterin Jung bemüht sich um Spenden und baut eine neue Gruppe auf.