Experten warnen vor zunehmender Kurzsichtigkeit
Berlin (dpa) - Immer mehr Kinder und Jugendliche brauchen Experten zufolge eine Brille oder Kontaktlinsen. „Ich gehe davon aus, dass der Anteil kurzsichtiger Kinder und Jugendlicher in den nächsten Jahrzehnten wahrscheinlich noch zunehmen wird“, sagt Prof. Wolf A. Lagrèze.
Laut dem Spezialisten für Kinderaugenheilkunde am Universitätsklinikum Freiburg seien schon heute mehr junge Leute betroffen als noch vor wenigen Jahrzehnten. Häufiges Nahsehen, etwa beim Lesen oder Arbeiten am Computer, und Mangel an Tageslicht gehörten Studien zufolge zu den Ursachen für die Sehschwäche.
Eine Kurzsichtigkeit (Myopie), bei der entfernte Objekte unscharf wahrgenommen werden, ist Folge eines zu starken Längenwachstums des Augapfels vor allem zwischen dem 6. und 18. Lebensjahr - in dem Alter, in dem viele Heranwachsende kaum vom Handy oder Computer wegzubekommen sind. Studien haben gezeigt, dass Tageslicht Kurzsichtigkeit vorbeugen kann: Helles Licht hemmt dieses Augenwachstum - wahrscheinlich über den Botenstoff Dopamin. In seinen Sprechstunden rate er Eltern dazu, ihre Kinder täglich ein bis zwei Stunden draußen spielen oder Sport machen zu lassen, sagte Lagrèze.
Nach kürzlich vorgestellten Daten des European Eye Epidemiology Consortium sind in Europa derzeit knapp 16 Prozent der 65- bis 69-Jährigen kurzsichtig. Bei den 55- bis 59-Jährigen haben schon fast 28 Prozent mindestens minus 0,75 Dioptrien - und bei den 25- bis 29-Jährigen sind es gut 47 Prozent, berichteten die Forscher im „European Journal of Epidemiology“. Groß angelegte Kohortenstudien mit belastbaren Zahlen zu Kindern und Jugendlichen gibt es laut Lagrèze in Europa aktuell nicht.
Ein noch größeres Problem ist die Kurzsichtigkeit in Asien: In Südkorea ergab die Untersuchung von 19-jährigen Rekruten, dass mehr als 96 Prozent mindestens minus 0,5 Dioptrien hatten. Jeder Fünfte war mit mindestens minus sechs Dioptrien schwer kurzsichtig. Eine Studie in China zeigte, dass etwa 90 Prozent der Studenten dort eine Brille tragen müssen. In Taiwan ergab eine Analyse, dass inzwischen rund 84 Prozent der Kinder kurzsichtig sind.
„Die Kinder gerade in China und Südkorea beginnen schon sehr jung mit dem Lernen und machen dabei sehr viel Naharbeit, vor- und nachmittags“, erklärte Prof. Norbert Pfeiffer, Direktor der Augenklinik der Universitätsmedizin Mainz. Zudem spielten die Kinder generell seltener draußen, nicht nur infolge der vielen Schularbeit. „Und drittens sind uns diese Länder im Gebrauch von Unterhaltungselektronik weit voraus.“
„Kinder in Singapur sind im Mittel etwa 2,7 Stunden draußen - pro Woche“, sagte Prof. Frank Schaeffel vom Forschungsinstitut für Augenheilkunde der Universität Tübingen. „Mit 20, 30 Jahren Verzögerung werden wir in Deutschland eine ähnliche Situation haben“, befürchtet er. Lagrèze sieht die Zukunft hierzulande nicht ganz so dramatisch: „Die Schüler in Asien pauken aktuell einfach viel mehr als in Europa und genetische Faktoren spielen zwar eine kleine, aber möglicherweise doch relevante Rolle.“
Seinen Angaben zufolge gibt es derzeit weltweit 1,5 Milliarden kurzsichtige Menschen, darunter 0,05 Milliarden stark kurzsichtige. Hochrechnungen zufolge werden es 2050 rund fünf Milliarden Betroffene sein, darunter eine knappe Milliarde stark kurzsichtiger Menschen. „Das ist ein bedrohliches Szenario“, sagte Lagrèze. Eine starke Kurzsichtigkeit gilt als Risikofaktor für andere Augenerkrankungen wie Grünen und Grauen Star oder Netzhautablösungen.