Hören mit den Augen - Schriftdolmetscher übersetzen für Gehörlose

Groß Trebbow (dpa) - Taube Studenten im Hörsaal? Mit einem Schriftdolmetscher ist das kein Problem. Der Übersetzer für Gehörlose tippt die Vorträge auf einer Steno-Tastatur in den Computer - und macht Sprache so sichtbar.

Am 29. September ist der Welttag der Gehörlosen.

Von Berufs wegen verleiht Sandra Kanschat ihre Ohren. Regelmäßig sitzt sie in norddeutschen Hochschulen und lauscht angestrengt wissenschaftlichen Vorträgen in Biologie, Kunst oder Mathematik. Simultan tippt die Schriftdolmetscherin für Gehörlose die Reden wortwörtlich mit Hilfe einer speziellen Stenografie-Tastatur blitzschnell in den Laptop. Eine Software wandelt die Short-Cut-Eingaben in lesbare Langschrift um und macht die Sprache fast in Echtzeit auf dem Monitor sichtbar. So kann auch ein tauber Student im Hörsaal die Vorlesung direkt verfolgen, wie die junge Mecklenburgerin erklärt.

In Deutschland leben dem Gehörlosen-Bund zufolge etwa 80 000 taube Menschen. 16 Millionen Bundesbürger gelten als schwerhörig. Gehörlose haben seit Anerkennung der Gebärdensprache im Sozialgesetzbuch 2001 das Recht, für öffentliche Belange bei Ausbildung, Studium und Arbeit, beim Arzt, Arbeitsamt, im Gericht oder in Behörden Dolmetscher zu beauftragen. Die Kosten übernehmen Krankenkassen, Arbeitgeber, Ämter oder Rentenversicherer.

Der Internationale Tag der Gehörlosen, 1951 vom Weltverband World Federation of Deaf (WFD) ins Leben gerufen, wird seit Mitte der 70er Jahre auch in Deutschland jeweils am letzten Sonntag im September begangen. Er macht auf die besondere Situation tauber Menschen aufmerksam und wirbt für die Gebärdensprache, wie es heißt. Aktionen und Veranstaltungen gibt es in vielen Bundesländern.

Bundesweit arbeiten laut Gehörlosen-Bund nur rund 500 Gebärdensprachdolmetscher, so dass Betroffene oft wochenlang auf eine Kommunikationshilfe warten müssten. Sandra Kanschat, gelernte Kauffrau für Bürokommunikation, fand in ganz Mecklenburg-Vorpommern keinen Gebärdensprachkurs. So absolvierte sie eine zweijährige Ausbildung zur Schriftdolmetscherin, wie sie erzählt.

Die Computer-Stenografie sei aus dem Amerikanischen übernommen worden und werde erst seit etwa zehn Jahren in Deutschland angeboten. Mittlerweile arbeiteten vielleicht ein Dutzend deutsche Schnellschreiber als Simultanübersetzer für Gehörlose. Eine von ihnen ist die 34-jährige Kanschat. Die zweifache Mutter gründete vor fünf Jahren in Groß Trebbow bei Schwerin ihren Dolmetscherservice „Mitschrift“. Mit dem Steno-System schaffe sie bis zu 400 Silben in der Minute- das Drei- bis Vierfache dessen, was mit einer normalen Tastatur getippt werden könne, sagt sie.

Der Vorteil solch einer Simultan-Mitschrift: Komplizierte Sachverhalte oder Vorträge können - anders als mit Gebärdensprache - wortwörtlich übertragen und sofort mitgelesen werden sowie für späteres Nachlesen, Überarbeiten und Lernen gespeichert und ausgedruckt werden. Viele Betroffene, die erst als Erwachsene infolge eines Unfalls oder einer Krankheit ihr Gehör verloren haben, beherrschten gar keine Gebärdensprache, erklärt Kanschat.

Insgesamt drei selbstständige Übersetzerinnen sind derzeit für das junge Unternehmen „Mitschrift“ tätig. Die Computer-Stenografen stehen längst nicht nur Studenten als Hör-Hilfe bei. Auch auf politischen und kulturellen Veranstaltungen, Betriebsversammlungen großer Unternehmen, bei Gerichtsverhandlungen, Arztbesuchen und Behördengängen tippen die Stenotypisten jeden Redeschwall in Sprechgeschwindigkeit in den Laptop: So zaubern sie das gesprochene Wort als lesbaren Text auf Monitore oder Großleinwände.

Nicht allein das Können des Schriftdolmetschers trage zum Erfassen des Gesagten für Gehörlose bei, betont Kanschat. Der Vortragende selbst entscheide mit seiner Sprache darüber, ob er auch von Tauben erhört wird. „Vorbildliche Redner sind Joachim Gauck und Angela Merkel“, sagt Kanschat. „Beide sprechen in perfekter Schreibgeschwindigkeit und korrektem Satzbau, sie verstehen es, sich einfach und verständlich auszudrücken.“