Krankheitsrisiken erkennen: Prädiktive Gendiagnostik

Berlin (dpa/tmn) - Noch ist die Präimplantationsdiagnostik (PID) in Deutschland verboten, um Embryonen auf Gendefekte zu testen. Erlaubt sind Gentests bislang bei Erwachsenen: Mit der prädiktiven Gendiagnostik lassen sich Aussagen über bestimmte Erkrankungsrisiken treffen.

Krebs war in der Familie von Andrea Hahne schon immer ein Thema. Großmutter, Mutter und Tanten starben daran. Und auch sie selbst blieb nicht verschont: Zweimal schon hatte sie Krebs, als bei ihr im Alter von 39 Jahren Brustkrebs diagnostiziert wurde. „Für mich war klar, irgendetwas ist anders in meiner Familie, in der so viele Frauen erkrankt sind“, erzählt die Vorsitzende des BRCA-Netzwerks, einer Selbsthilfevereinigung, die sich um Betroffene mit familiärem Brust- und Eierstockkrebs kümmert.

Ein Gentest brachte Gewissheit: Bei Hahne liegt eine vererbbare Veränderung der sogenannten BRCA-Genen vor, die für die Entstehung von Brust- und Eierstockkrebs verantwortlich sind. „Ich hatte endlich eine Erklärung für die Häufung in meiner Familie“, sagt sie. Unter diese Erleichterung mischte sich dennoch das Gefühl, als werde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen: Hahne hat drei Töchter, an die sie die Genmutation womöglich weitergegeben hat. Außerdem könnte der Krebs bei ihr selbst jederzeit wieder ausbrechen.

In Deutschland gibt es etliche universitäre Zentren, die diese und andere erblich bedingte Krankheitsrisiken erforschen sowie Betroffene behandeln und beraten. Allerdings kann niemand so ohne weiteres dort seine Gene testen lassen. Nötig sei ein Überweisungsschein des behandelnden Arztes, erläutert Denise Horn, Leiterin der genetischen Beratungsstelle am Virchow-Klinikum der Charité in Berlin. Und der Betreffende muss gegebenenfalls zusammen mit seiner Familie zunächst eine genetische Beratung in Anspruch nehmen. Außerdem muss er volljährig sein.

Hahne wurde erst auf eigenes, vielfaches Nachfragen und erst im Zuge ihrer dritten Krebserkrankung an die Universitäts-Frauenklinik in Köln weitergeleitet. Aber auch Gesunde, die in ihrer Familiengeschichte „auffällige Hinweise“ auf bestimmte vererbbare Krankheiten haben, können sich Horn zufolge beraten lassen. Neben familiärem Krebs geht es zum Beispiel um neurologische Erkrankungen wie Chorea Huntington, die mit Intelligenz- und motorischen Verlusten sowie Sprachstörungen einhergehen. Auch verschiedene Stoffwechselerkrankungen, erblich stark erhöhte Blutfettwerte oder eine genetisch bedingte Neigung zur Thrombose sind - je nach Schwerpunkt der Wissenschaftler - Themen.

In der genetischen Beratung geht es zunächst um das Erkennen und Zuordnen genetisch bedingter oder mitbedingter Krankheiten. Liegt eine solche vor, erläutern die Ärzte den Verlauf, die Wahrscheinlichkeit der Wiederholung und Vererbungsmuster. Erst nach einer mehrtägigen Bedenkzeit wird Blut für die Analyse entnommen. „Der Ratsuchende ist dadurch gezwungen zu überlegen, was sich in seinem Leben verändern könnte“, sagt Horn und nennt Beispiele: Bin ich jemand, der sich mit einem für mich ungünstigen Ergebnis arrangieren kann? Was bedeutet das für meine Familie? Für meine Arbeit? Welche Versicherungen müsste ich umstellen?

Untersucht werden gezielt die Gene, deren Mutation für die jeweilige Krankheit verantwortlich ist - Analysen nach dem Zufallsprinzip, sogenannte Gensequenzierungen, sind in Deutschland aufgrund des Gendiagnostikgesetzes verboten. Ist das Ergebnis positiv, sind also eines oder mehrere Gene verändert, ist eine sogenannte prädiktive genetische Diagnostik möglich: Die Mediziner können Aussagen über das individuelle Erkrankungsrisiko machen.

Für bislang Gesunde mit familiärer Vorbelastung könne das eine große Hilfe sein, heißt es in einer Stellungnahme der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und weiterer Akademien zur prädiktiven Gendiagnostik als Instrument der Krankheitsprävention. Sie sind einerseits entlastet, wenn feststeht, dass bei ihnen das betreffende Gen nicht verändert ist. Andererseits ermögliche ein positiver Befund, die betreffende Krankheit durch Vorbeugen zu verhindern oder durch frühzeitige Therapie effektiver zu behandeln.

Allerdings: „Es gibt auch Menschen, die den Test machen und das Ergebnis dann nicht wissen wollen“, erklärt Horn. Denn niemand muss sich mit seiner möglichen erblichen Vorbelastung befassen. „Bei jeder Nutzung von prädiktiver Medizin muss grundsätzlich die Selbstbestimmung des zu Untersuchenden respektiert werden“, heißt es in der Stellungnahme der Akademien. Dazu gehört auch das Recht, auf entsprechende Untersuchungen von vornherein zu verzichten.

Das Nicht-Wissen-Wollen kann etwa der Fall sein bei Krankheiten, „die sich medizinisch kaum beziehungsweise gar nicht beeinflussen lassen, zum Beispiel neurodegenerative Krankheiten“, wie die Wissenschaftsakademien erläutern. Denn eines muss jedem klar sein, der einen Test erwägt: Zwar könne die prädiktive Diagnostik vorhersagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine erbliche Krankheit im Laufe des Lebens auftreten wird - nicht aber zu welchem Zeitpunkt.