Wenn das Volk leidet - Auch Krankheiten folgen manchmal Moden
Dresden (dpa/tmn) - Immer mehr Menschen werden immer kränker. Bluthochdruck, Diabetes oder Depressionen gelten in diesem Zusammenhang als wahre Volkskrankheiten. Doch was verbirgt sich hinter dem Begriff eigentlich?
Dresden (dpa/tmn) - Immer mehr Menschen werden immer kränker. Bluthochdruck, Diabetes oder Depressionen gelten in diesem Zusammenhang als wahre Volkskrankheiten. Doch was verbirgt sich hinter dem Begriff eigentlich?
Ob das Zappelphilipp-Syndrom ADHS oder der stressbedingte Burnout: Wenn Krankenkassen aufgrund solcher Diagnosen steigende Zahlen der Medikamentenverordnungen oder der Arbeitnehmer-Fehltage vermelden, ist schnell die Rede von einer „neuen Volkskrankheit“. Doch nicht immer trifft diese Bezeichnung zu. Denn zum Beispiel steigende Krankheitstage bedeuten nicht automatisch, dass es mehr Kranke gibt. Es kann auch sein, dass weniger Menschen einfach öfter krank sind oder dass etwa psychische Beschwerden nur deshalb häufiger diagnostiziert werden, weil Ärzte und Patienten sich stärker trauen, die Ursachen beim Namen zu nennen.
„Der Begriff Volkskrankheit ist keine medizinische Fachsprache“, sagt der Gesundheitswissenschaftler Prof. Joachim Kugler von der Technischen Universität Dresden. Und klar definiert sei er auch nicht. Grundsätzlich lasse sich aber sagen, dass eine Volkskrankheit eine Krankheit ist, von der sehr viele Menschen in einem Land betroffen sind. So unterscheiden sie sich deutlich von seltenen Erkrankungen, den sogenannten Orphan Diseases, an denen nur etwa 1000 Patienten in der Bevölkerung leiden.
Aber was ist überhaupt eine Krankheit? Für die Krankenkassen ist diese Definition einfach. „Für uns lässt sich nur das als Krankheit erfassen, was einen sogenannten ICD-10-Schlüssel hat“, erklärt Michaela Hombrecher von der Techniker Krankenkasse. ICD-10 ist die von der Weltgesundheitsorganisation WHO herausgegebene internationale Klassifikation der Krankheiten. Ärzte nutzen diesen Schlüssel vor allem, um ihre Diagnosen mit den Kassen abzurechnen. „Burnout hat keinen ICD-10-Schlüssel“, nennt Hombrecher ein Beispiel.
Abgrenzen muss man Volkskrankheit auch vom Begriff Zivilisationskrankheit. „Unter Zivilisationskrankheit wird ein gewisses "Selbst schuld"-Prinzip mitgefasst“, sagt Ursula Marschall, Leitende Medizinerin der Krankenkasse Barmer GEK. Mitschuld habe der Patient zum Beispiel, weil er sich ungesund ernährt und kaum bewegt hat. Das betreffe vor allem Menschen in Industrienationen, während die Bevölkerung in Entwicklungsländern eher an Armutserkrankungen wie Tuberkulose oder Lepra leide.
„Der Begriff Zivilisationskrankheit impliziert, dass die Erkrankung durch den Lebensstil, die Kultur, die Gesellschaft mitverursacht ist“, fügt Kugler hinzu. Ein klassisches Beispiel: die Arteriosklerose, die heute oft zu Herzinfarkt und Schlaganfall führt. „Sie wurde vor circa 170 Jahren das erste Mal beschrieben, seitdem weiß man, dass der Lebensstil - vor allem Ernährung, Bewegungsmangel, Stress - wichtige Risikofaktoren sind.“ Noch nach dem Zweiten Weltkrieg sei der Herzinfarkt in kardiologischen Lehrbüchern erst weit hinten vorgekommen, weil die Menschen bis dahin nicht unter Bewegungsmangel und zu fetter Ernährung litten.
„Viele Zivilisationskrankheiten sind inzwischen auch Volkskrankheiten, aber nicht alle. Allerdings geht das Hand in Hand“, erläutert Kugler. Es gebe Schätzungen, wonach die Hälfte aller Todesfälle in Deutschland auf vermeidbaren Risiken beruhen, die zum Beispiel durch zu wenig Sport oder zu kalorienreiches Essen entstehen. „Adipositas, also Fettleibigkeit, ist unbestritten eine Krankheit“, ergänzt Hombrecher. „Aber ist sie eine Zivilisations- oder bereits eine Volkskrankheit? In jedem Fall ist Adipositas einer der Hauptrisikofaktoren für Volkskrankheiten wie Rückenschmerzen, Herz-Kreislauf-Beschwerden und Diabetes.“
Der Anstieg bestimmter Krankheitszahlen oder Symptome (ver)führe dazu, von Volkskrankheiten zu sprechen, sagt Marschall mit Blick auf regelmäßig publizierte Daten der Krankenkassen, etwa im jährlichen Barmer-GEK-Arztreport. Wie auch Kugler gibt sie zu bedenken, dass es sich um Abrechnungs- und keine medizinischen Daten handele. „Man muss immer gucken: Haben wir einen massiven Anstieg der Patienten oder nur ein verändertes Bewusstsein?“, betont sie. Psychische Erkrankungen etwa seien inzwischen salonfähig geworden. Ärzte rechneten nicht mehr nur allein „Rückenschmerzen“ ab, sondern codierten häufiger eine psychische Erkrankung dazu.
So führt die Diagnose Depression zu immer mehr Klinikaufenthalten und Fehlzeiten, gibt Hombrecher ein Beispiel. Betroffen sei aber nur ein kleiner Teil der Bevölkerung. Diese Patienten seien jedoch sehr lange oder mehrfach im Jahr arbeitsunfähig. Auf verhältnismäßig wenig Menschen entfallen dann sehr viele Fehltage, so dass diese Diagnose inzwischen an der Spitze der Krankschreibungsgründe steht. „Ich würde davon Abstand nehmen, Depressionen als Volkskrankheit zu bezeichnen, weil es einfach nicht so viele Betroffene gibt“, erklärt sie. Kugler spricht in diesem Zusammenhang auch lieber von „Modeerkrankungen“, die früher stigmatisiert waren und zunehmend an Akzeptanz gewinnen.