Vor einem Jahr: Der Amoklauf zu Winnenden
WZ-Projekt: Material zum Amoklauf
Düsseldorf. Nun jährt er sich also, der Tag von Winnenden. Es war nicht der erste Amoklauf und leider sicher nicht der letzte. Ich bin selbst Lehrer und erfuhr von der Tat während der Abschlussprobe unseres Schülertheaters auf einer kleinen Krefelder Bühne. Wir gaben am selben Abend "Die Welle" von Morton Rhue. Nach kurzer Diskussion entschied das Ensemble von 14- bis 16-jährigem Schülern, das Finale des Stückes zu ändern. Man wollte Bezug nehmen auf den tragischen Vorfall.
Was ansonsten folgte, war der routinemäßige politische Trauerablauf aus Betroffenheitsreden und Analyse-Versuchen. Man könnte das ganze Spektakel fast schon zynisch nennen. Denn im gleichen Atemzuge wurden den Lehrern immer weitere bürokratische Abläufe verordnet.
Und just um den Jahrestag herum erscheinen viele Bücher, die den Anspruch haben, Lehrern und Eltern Hilfestellung geben zu wollen. Greifen wir eins heraus - "Amok" von der Kriminologin Britta Bannenberg. Was leistet so ein Buch? Vor allem aber, was leistet es nicht?
Zunächst einmal befasst es sich auf gut 100 Seiten mit Theorie. Das ist toll, das ist sehr wissenschaftlich, das ist nutzlos. Quintessenz: Der Durchschittsamokläufer trägt lange schwarze Mäntel oder nicht, ist männlich, identifiziert sich besonders mit den beiden Schülern, die 1999 an der US-High-School in Columbine ein Massaker anrichteten. Er hasst Frauen oder betet sie an, ist verschlossen, mag Waffen und Ballerspiele.
Darauf wäre man nie gekommen. Ob das jetzt mit der Prävention klappt? Wenn ich als Lehrer für jeden verschlossenen 15-Jährigen einen Euro bekäme, ginge es mir wirtschaftlich deutlich besser. Schwarz tragen in meiner Klasse an manchen Tagen 30Prozent der Schülerinnen und Schüler. Alle meine Jungs hassen die Mädchen oder beten sie an. Blöderweise fast immer gleichzeitig, wechselweise am selben Tag. Dieses Phänomen nennt man Pubertät - eine höchst verzichtbare Phase des menschlichen Lebens. Aber leider kaum abschaffbar.
Was es hier braucht, ist ein sehr waches Auge für Entwicklungen. Ein Gespür für die Jugendlichen und vor allem Kommunikation. Der intensive Austausch zwischen den Kollegen untereinander und den Eltern kann dann wir ein menschlicher Seismometer wirken. Ein Früherkennungssystem für kritische Entwicklungen.
Eine weitere wichtige Komponente ist das Vertrauensverhältnis zwischen Lehrern und Schülern. Ein intensives, offenes Gesprächsverhalten kann weitere Aufschlüsse über mögliche Fehlentwicklungen geben. Alle diese Komponenten erwähnt das Buch selbstverständlich auch. Aber das alles hätte man schon vorher gewusst. Aber machen wir uns nichts vor: Nichts ist so tief, wie die menschliche Seele, und nichts ist so unerforscht.
Um weitere Amokläufe zu verhindern, brauchen wir intensive Betreuung, Menschlichkeit, Entlastung der Lehrer und der Schüler - und Glück. Denn das menschliche Seismometer ist zu oft gestört. Vor allem durch die rasante Entwicklung der Bürokratie.
Der Verwaltungsaufwand an Schulen wächst rapide. Alle Beteiligten wenden mittlerweile immer größere Anteile der Arbeitszeit für sachfremde Tätigkeiten auf. Im Bestreben, Transparenz zu schaffen, wird in erster Linie eines produziert - Papier. Eingezwängt zwischen Lernstandserhebungen, Listenführung, Schul-Tüv, Zentralabitur oder Abschlussprüfungen leidet vor allem das Kerngeschäft: Zeit zuzuhören.
Auf der Seite der Schüler steigt der Druck, weil immer mehr Lernstoff in immer kürzerer Zeit bewältigt werden muss. Grade in großen Schulsystemen geht dann leicht der zwischenmenschliche Kontakt verloren. Schüler und Lehrer werden zu Nummern im System. Da kommt es dann schon mal zu Begegnungen der besonderen Art: "Unterrichten Sie auch hier?", fragen sich dann Kollegen, die seit Jahren an derselben Schule sind auf dem Gang.
Kleine Systeme mit bis zu 400 Schülern leisten oft intensivere Betreuung, weil sich die Schüler besser aufgehoben fühlen. Vor allem aber ist der Austausch zwischen den Kollegen intensiver. Dies könnte ein Ansatz sein. Gerade lernschwächere und leicht überforderte Schüler finden hier bessere Förderung.
Aber kleine Schulen sind doch in der Regel nur noch die Hauptschule. Und die sind doch eine Sackgasse, werden viele einwenden. Dies ist aber nur teilweise richtig. Es gibt immer noch eine große Anzahl an Hauptschulen, die sehr gute Arbeit leisten. Die Stadt Köln geht jetzt einen interessanten Weg. Sie wandelt eine Hauptschule mit ca. 400 Schülern in eine Gesamtschule um. Ein Mikrosystem, an welchem Schüler hervorragend gefördert werden können. Es steht zu hoffen, dass andere Kommunen sich an diesem System orientieren werden. Ob es letztlich hilft, Amokläufe zu verhindern, steht auf einem anderen Papier.