Bei Marx, Freud und Nero: Wohliges Gruseln auf Londons Friedhöfen
London (dpa/tmn) - Orte von melancholischer Schönheit sind Londons Friedhöfe, die noch aus der Zeit von Charles Dickens datieren. Am schönsten gruseln kann man sich auf dem Highgate Cemetery, wo der Rauschebart von Karl Marx aus dem Pflanzendickicht ragt.
„Suchen Sie Karl Marx?“, fragt die alte Frau, die gerade ein Grab neu bepflanzt. Sie weiß, dass unsichere Blicke auf dem Highgate Cemetery immer nur eines bedeuten können: Touristen finden im Gewirr der Kreuze, Gruften und Steinplatten nicht zu „Charlie“. „Da hinauf bis ganz zum Ende und dann links“, lautet ihr Hinweis, dann wendet sie sich wieder den Pflanzen auf dem Grab vor ihr zu.
Highgate Cemetery ist der spektakulärste der großen, alten Londoner Friedhöfe. Diese nennt man „The Magnificent Seven“, die Fantastischen Sieben. Entstanden sind sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als sich die Einwohnerzahl der schon damals größten Metropole Europas auf mehr als zwei Millionen verdoppelte. Binnen neun Jahren entstanden sieben „Cemeteries“: Kensal Green, Norwood, Highgate, Nunhead, Brompton, Abney Park und Tower Hamlets.
Bis heute sind diese Ruhestätten ein Spiegelbild der viktorianischen Gesellschaft. So ist Highgate aufgeteilt in einen östlichen Teil für die Armen und einen westlichen für die Reichen. Marx wurde 1883 in einem Armengrab im Osten bestattet. Es lag ursprünglich 150 Meter hinter der Stelle, an der sich heute ein tonnenschwerer Bronzekopf erhebt. Wenn darunter nicht „Workers of all lands, unite!“ stehen würde, könnte man glatt meinen, dass hier der Weihnachtsmann begraben liegt, so rauschebärtig blickt der Philosoph auf seine Besucher herab.
Die große Attraktion ist der Westteil von Highgate. In seinen Anfangstagen war dieser Friedhof eine gepflegte Anlage mit goldbeschrifteten Grabplatten und Extravaganzen wie der Egyptian Avenue, die mit ihren mächtigen Säulen dem damaligen Ägyptenkult frönte. Da man in Highgate alle Gräber gleich für die Ewigkeit kaufte, war es nur eine Frage der Zeit, bis der Friedhof belegt war und keinen Profit mehr abwerfen konnte.
Die meisten Bestatteten waren mittlerweile vergessen, es gab keine Angehörigen mehr, um die Gräber zu pflegen - so verfiel die Nekropolis. Highgate war zu einem Ort geworden, wie ihn Hollywoods Horror-Spezialisten nicht besser erfinden könnten. Tatsächlich drehte Christopher Lee hier einen Dracula-Film.
Der Verein „Friends of Highgate Cemetery“ übernahm 1981 beide Friedhofsteile. Seitdem haben ehrenamtliche Helfer den Wildwuchs zurückgeschnitten und zahllose Gräber restauriert, ohne die einzigartige Stimmung des langsamen Vergehens dabei zu beeinträchtigen. Fast jedes Grab erzählt eine Lebensgeschichte.
Da ist das Mausoleum, das der aus Frankfurt stammende Geschäftsmann Julius Beer für seine achtjährige Tochter Ada errichten ließ, an einer besonders hoch gelegenen Stelle, so dass er es von seinem Wohnhaus in der Innenstadt aus jederzeit sehen konnte. Nicht weit entfernt davon ein schlafender Löwe: Nero, der Liebling des Tierschaustellers George Wombwell (1777-1850).
Seit einiger Zeit werden auch im Westteil von Highgate wieder Gräber angelegt, und so kommen neue Schicksale dazu. Einer der jüngeren Grabsteine ist der des Kreml-Kritikers Alexander Litwinenko, der 2006 im Londoner Exil mit dem Strahlengift Polonium 210 ermordet wurde. Als Mörder verdächtigt die britische Staatsanwaltschaft einen Ex-Agenten des russischen Geheimdienstes.
Die melancholische Schönheit von Highgate ist unübertroffen, aber auch andere Londoner Friedhöfe sind einen Besuch wert. Brompton Cemetery zählt nicht weniger als 200 000 Gräber. Ein Regiment von Engeln betrauert verblichene Generationen.
Weniger morbide ist die Atmosphäre im Krematorium Golders Green, dessen Verstreuungsfeld als Ruhestätte Londoner Freidenker gilt. Urnen oder kleine Tafeln künden von Berühmtheiten wie der Schriftstellerin Enid Blyton („Hanni und Nanni“) oder dem Popstar Keith Moon von The Who. Die Asche Sigmund Freuds, des Begründers der Psychoanalyse, wird seinem Wunsch entsprechend in einer griechischen Vase aus seiner Antikensammlung aufbewahrt.