Polens Hauptstadt feiert ihren Pianisten und Komponisten, der vor 201 Jahren geboren wurde. Heute präsentiert sich die Stadt jung und modern Auf Chopins Spuren Warschau entdecken
Wer in diesen Wochen Polens Hauptstadt Warschau besucht, kommt an Chopin nicht vorbei – auch wenn der Vorname des Musik-Genies mal auf Polnisch Fryderyk und mal auf Französisch Frédéric geschrieben wird.
Als er am 22. April 1810 in Zelazawa Wola im Herzogtum Warschau getauft wurde (sein genaues Geburtsdatum ist umstritten), war Chopin Pole. Als er am 17. Oktober 1849 in Paris mit nur 39 Jahren starb, besaß er auch die französische Staatsangehörigkeit. Dass ein größeres Publikum seines 200. Geburtstages mit einem Jahr Verspätung gedenkt, ist der Corona-Situation geschuldet.
Fakt ist: Chopin, Sohn einer polnischen Mutter und eines lothringischen Vaters, der 1794 auf Seiten der Warschauer Miliz beim Aufstand gegen die russische Besatzung kämpfte, hat die entscheidende Jahre seines musikalischen Lebens in Warschau verbracht. 1831 erfuhr er auf einer Konzertreise in Stuttgart von der blutigen Niederschlagung des erneuten (November-) Aufstandes gegen das zaristische Russland in Polen, und änderte seine Richtung statt nach Wien nach Paris. Nie mehr wieder hat er polnischen Boden betreten. Aber seine Liebe zu seinem Heimatland blieb, und lässt sich heute noch aus seiner leidenschaftlichen Revolutionsetude heraushören.
Der Königsweg
ist Warschaus Flaniermeile
Als Chopin – vermutlich an Tuberkulose – zu Tode erkrankt war und seine Schwester Ludwika an sein Sterbebett gerufen hatte, nahm er ihr das Versprechen ab, dass er in Paris auf dem Friedhof Père Lachaise beigesetzt werde, sein Herz aber „für immer nach Warschau“ gehöre. Dorthin hat die Schwester, der Erzählung nach, Chopins Herz in einem Glasbehälter unterm Rock an der zaristischen Besatzungsmacht vorbei geschmuggelt. Dort ist Das Herz Copins ist nun in einem Bogen der Heilig-Kreuz-Kirche am so genannten Königsweg eingemauert.
Der einst prachtvoll bebaute „Königsweg“, nach seiner nahezu völligen Zerstörung durch die deutsche Wehrmacht 1944 in mühevoller Detailarbeit nach Krieg und Sozialismus weitgehend originalgetreu rekonstruiert und zu Warschaus Flaniermeile ausgebaut, führt auf einer Länge von rund vier Kilometern sozusagen als Nord-Süd-Achse vom Königsschloss bis zum königlichen Lazienki-Park. Auf dieser Strecke sind, zum Jubiläumsjahr, 14 sogenannte Chopin-Bänke aus poliertem schwarzem Granit aufgestellt worden, die es buchstäblich in sich haben. In Stein geätzt erfährt der Spaziergänger, der sich auf seiner Tour zur Pause niedergelassen hat, wann der Komponist an dieser und jener Stelle mit seiner Familie gelebt und was er dort geschaffen hat. Auf Knopfdruck ertönt passend dazu eines seiner schönsten Werke.
In unmittelbarer Nähe des Königsweges befindet sich das multimedial ausgerüstete Muzeum Chopin, in dem Handschriften und Zeichnungen detailliert das Leben des Musikgenies belegen. Der kleine Frédérik hatte bereits mit sechs Jahren seiner Mutter seine erste Polonaise gewidmet, mit sieben Jahren gab er im Palast des zaristischen Statthalters Radziwill sein erstes Konzert, und in der barocken Visitantinnen-Kirche spielte er im Schulgottesdienst die Orgel. Bereits als Fryderyk elf Jahre alt war, hatte sein Klavierlehrer Wojtech Zywme Chopins Eltern mitgeteilt, dass er dem Jungen nichts mehr beibringen konnte.
Das Geburtshaus Chopins in Zelazowa Wola, knapp eine Autostunde von Warschau entfernt, war 1810 ein Gutshaus, in dem Vater Chopin als Hauslehrer tätig war. Heute ist das Anwesen ein Museum in einer gepflegten Parkanlage, in der bis Ende September jeden Samstag und Sonntag von 12 bis 15 Uhr Chopin-Konzerte gegeben werden. A propos Konzerte: Überall in der Warschauer City sind täglich kleine Chopin-Konzerte. Im königlichen Lazienki-Park geben von Mai bis Ende September jeden Sonntag zwischen 12 und 16 Uhr namhafte Pianisten Klavierkonzerte unter dem riesigen Jugendstil-Chopin-Denkmal.
Warschau ist – trotz seiner Vergangenheit – alles andere als nur eine Museumsstadt. Wer sich umschaut, sieht eine vitale Großstadt vor einer Skyline aus Stahl und Glas – Wolkenkratzer, so weit das Auge reicht. Die Liste der fertigen Bauwerke über 90 Metern Höhe umfasst 27 Hochhäuser, 19 weitere Riesen sind im Bau beziehungsweise in Planung, darunter der Varso-Tower, bei Fertigstellung 2022 mit 310 Metern das höchste Bauwerk der EU.
Eine junge Stadt mit
einem verhassten Erbe
Jahrzehnte lang war der Kulturpalast der höchste Bau in Warschau – ein Geschenk Stalins aus dem Jahre 1953, verhasst und verspottet. Inzwischen haben die Warschauer ihren Frieden mit dem Palast gemacht. Zum Jahrtausendwechsel bekam der steinerne Vertreter des sozialistischen Klassizismus sogar eine Turmuhr. Die Warschauer sprechen augenzwinkernd von der „Big Ben-isierung“.
Warschau, das sieht man im Straßenbild, ist eine junge Stadt. Rund 40 Prozent ihrer (offiziell) 1,8 Millionen Einwohner – die tatsächliche Zahl wird auf rund zwei Millonen geschätzt – sind nach 1990 geboren, also kaum älter als 30 Jahre. Das ist nicht zuletzt auf 40 Hochschulen in der Stadt zurückzuführen. Und auf den Boom an Jobs, die junge Leute dort finden. Die Arbeitslosenquote liegt bei unter zwei Prozent, sagen die Behörden.
Ein Teil des jungen Lebens spielt sich im Stadtteil Praga ab, am rechten Weichselufer. Dort waren, bis in die 90er-Jahre, Verfall und Kriminalität zu Hause – „die Bronx von Warschau“. Dann wurden findige Investoren auf den morbiden Charme des Stadtteils aufmerksam.
Im Gebäudekomplex der früheren Wodka-Fabrik Koneser aus dem 19. Jahrhundert im Norden ist heute ein hippes Business- und Kneipenzentrum geworden, in Praga-Süd, wo einst in der „Soho Factory“ Mopeds und Motorräder zusammengeschraubt wurden, arbeiten heute Künstler, Kunsthandwerker Schauspieler und natürlich Gastronome. „Die Verbrechensquote hier ist niedriger als in der Innenstadt“, sagt Stadtführer Antoni Wladyka.
Ein Juwel, auf den ersten Blick eher unscheinbar, hat ein Brite den Praga-Warschauern geschaffen: das Neon-Museum. Was heute auf riesigen Bildschirmen auf den Fassaden der Metropolen flimmert, waren bis in die 70er-, 80er-Jahre Neon-Reklame. „Neon war in einer grauen Zeit die Flucht in die Farbe“, sagt David Hill, der europaweit mit offenen Augen durch Städte reist, in denen Altes abgerissen und Neues gebaut wird.
Der Londoner sammelt alte Neonreklame-Reste auf, restauriert sie mit einem kleinen Team von kunstfertigen Handwerkern, schmückt damit die Wände seines Museums und beschreibt, wo die bunten Leuchtreklamen einstmals die Konsumenten verführt haben. „Unsere Besucher schwelgen in Nostalgie“, sagt Hill voller Stolz.
Der Autor reiste mit Unterstützung des Polnischen Fermdenverkehrsamtes.