Santorin ist berühmt für den Sonnenuntergang. Dabei ist es eine Stunde später noch viel schöner Der Moment danach
Irgendwer hat ganz plötzlich den Mond über der vorgelagerten Insel Thirasia gehisst, Sterne an den Himmel geklebt, jemand anders die Musik eingeschaltet: nicht mehr laute Lounge-Musik, sondern leise griechische Gitarrenmusik, damit das Plätschern der Wellen an die Kaimauer von Ammoudi nicht übertönt wird.
Ab und zu klappert Geschirr auf den kleinen Tischchen, knarzt ein strohbespannter Holzstuhl, lachen Menschen. Es ist Abend geworden auf Santorin, stiller geworden in Ammoudi, dem alten Hafen am Fuß des Steilhangs 290 gepflasterte Stufen unterhalb von Oia. Dabei hat die die Sonne erst vor einer Stunde als kreisrunder orangener Feuerball am Horizont auf der Wasserlinie direkt hinter einem Kreuzfahrtschiff aufgesetzt, um gleich danach ungebremst im Mittelmeer zu versinken.
Die meisten Plätze sind besetzt, es duftet nach gegrilltem Fisch, nach Krustentieren und Muscheln, nach Koriander, Salbei, Knoblauch, nach Gurke, Tomate und nach Holzkohle. An den Pollern sind die Kutter der Fischer vertäut, schwappen auf den Wellen vor der Taverne Dimitrios ganz am Ende der langen Restaurant-Zeile hin und her. Romantisch ist es hier, obwohl die Plätze nachgefragt und die Tische in der Saison fast jeden Abend alle belegt sind, manche sogar mehrfach nacheinander. Weil geradeaus das Meer ist, im Rücken der Felsen. Der große Tourismus scheint plötzlich ausgeblendet, ist irgendwie nicht mehr zu sehen. Und der Kopf vergisst schnell an einem dieser Holztischchen im warmen Wind. Langsam kehrt Ruhe ein auf Santorin: der eigentliche Zauber, Minderheitenprogamm. Was für ein Glück!
Begehrte Plätze auf den Terrassen Richtung Westen
„Als Kind hatte ich den Traum, jedem in der Welt die Hand zu schütteln“, sagt Wirtin Joy Kerluke: „Es sind viele geworden im Laufe des Lebens – aber viel weniger, als wenn wir die Taverne damals vor mehr als 30 Jahren oben in Oia eröffnet hätten. Dies ist mein Lieblingsplatz auf der Insel, genau hier: damals, heute, immer.“ Obwohl auch hier unten inzwischen mehr los ist als noch vor ein paar Jahren. Namensgeber Dimitrios steht derweil am Grill, wendet Doraden, Tintenfisch-Arme, Sepia-Tuben – und schweigt. Als Fischer kann er das gut, Rummel braucht er nicht.
Eben noch war es eng in den Gassen, ziemlich voll auf den Terrassen der Bars und Restaurants oben in Oia, schon seit über einer Stunde vor Sonnenuntergang nirgendwo mehr ein Platz mit Blick Richtung Westen und der Chance auf einen bunten Cocktail zu bekommen: Weil die Aussicht so schön ist. Mehr noch aber weil rückwärts gezählt wird wie in der letzten Minute an Silvester. Weil dort dann stets laute Lounge-Musik mit ein paar griechischen Zwischentönen aus den Boxen scheppert, es sommerlich warm ist und gleich Applaus geben wird, der kurz in der Luft zu hängen scheint, ehe der leichte Wind ihn wegbläst, als hätte man bündelweise Luftballons losgelassen.
Ein bisschen noch hält sich dieser Sound danach über dem Örtchen an der Steilküste im äußersten Nordosten der Insel, dann reduziert sich die Geräuschkulisse auf heiteres Stimmengewirr, hier ein Lachen, dort die Musik und bald darauf löst sich alles wieder auf und verteilen sich die Menschen in alle Himmelsrichtungen: zurück in die Ferienhotels von Kamari auf der gegenüberliegenden Seite der Insel, heim in die berühmten und inzwischen oft sündhaft teuren Höhlenhotels von Oia, Imerovigli und Firostefani, zurück auf die Kreuzfahtschiffe, die vor Santorin auf Reede liegen. Oder hinunter nach Ammoudi, um von der Kaimauer aus auf Mond und Sterne zu schauen – und fangfrischen Fisch vom Grill zu essen.
Fassaden leuchten
im letzten Licht orange
Fast ein halbes Jahr lang, über die ganze Saison von Mai bis Anfang Oktober hinweg, wird der Sonnenuntergang in Oia von ständig wechselndem Publikum gefeiert, wann immer die Natur ihn auf den Spielplan hebt – und das ist fast immer, denn Wolken und Nebel haben um diese Jahreszeit Seltenheitswert in der Ägäis. Jede Terrasse, jeder waagerechte Quadratmeter vor einer Bar, auf den sich ein hellbaues Holzstühlchen stellen lässt, wird dabei zur Loge. Und es gibt viele davon in Oia, diesem Bilderbuchdorf mit seinen schneeweißen Fassaden, den dunkelblauen Kuppeln, den winzigen Kirchtürmen. Viele von diesen Stühlchen, viele von diesen Logenplätzen.
Dabei ist es der Moment danach, um den es eigentlich geht: wenn die Fassaden der Häuser im letzten Licht orange zu leuchten scheinen, die Farbe in ein seltsames Übergangshellblau wechselt, in diesen flüchtigen Ton zwischen Tag und Nacht – bis unversehens Sterne und Mond da sind, die Straßenbeleuchtung übernimmt. Jemand treibt die letzten Maulesel wieder zum Stall im Hinterland, in dem sie sich vom Gewicht der Urlauber erholen, die sie tagsüber auf ihren Rücken durch die Kuppel-und-Treppchen-Szenerie getragen haben. Die vielen Tischchen mit Souvenirs werden abgetakelt, die Auslagen für die Nacht nach drinnen geräumt: Feierabend in Oia, Schluss mit Rummel, wenn die Sonne weg ist.
Winzer Paris Sigalas hat für diese Zeit einen persönlichen Lieblingsplatz, von dem aus er seine Weinreben bei Baxedes auf der Hochebene östlich von Oia sehen kann: die Kirche Kyra Panagia. Dort hockt er dann gern auf den Stufen, betet erst drinnen, dann draußen, gerät schließlich ins Träumen. Es ist der entspannendste Moment des Tages.
Wein, der nach
Nüssen und Honig schmeckt
Auf mehr als 20 Hektar baut Paris Sigalas Wein an: den harzigen Asirtiko-Atkiri vor allem, kräftig, mit Geschmack nach Nüssen und Honig. Sein Vin Santo ist berühmt, dessen geerntete Trauben vor der Weiterverarbeitung zehn bis 14 Tage in der Sonne trocknen, ehe der Rest an Saft gepresst wird und für bis zu fünf Jahre im Eichenfass lagert. Beide verkauft er inzwischen um die halbe Welt, an Küchenchefs von Sterne-Restaurants bis hin zu Alain Ducasse. Und an die besten Tavernen auf Santorin. Weil der Geschmack so gut hierher passt, zu dieser Zeit nach dem Sonnenuntergang, zu der zurückgewonnenen Besinnlichkeit.
Ob es so etwas wie einen zweitschönsten Moment auf Santorin gibt? Das ist der Sonnenaufgang – und es sind die zwei Stunden danach, wenn die Farben kräftiger werden, die Fassaden zu leuchten beginnen. Und ganz langsam das Leben in die Straßen zurückkehrt – so langsam, dass noch Zeit für ein Lächeln, ein Gespräch, einen griechischen Mokka im Café ist.