Ungarn: Gegensätze in der beliebten Ferienregion Plattensee Kurbad-Idylle in Hévíz, Bau-Boom am Balaton
Von Claudia Kasemann und Andras Rostovanyi
Platsch! Rücklings lässt sich Kurgast Robert nach dem ersten vorsichtigen Einstieg ins warme Wasser des Sees fallen. „Herrlich“, sagt er ein paar Schwimmzüge später und atmet die dampfige, nach Schwefel „duftende“ Luft über der Seeoberfläche ein.
In Hévíz, dem kleinen, aber bekannten ungarischen Kurort mit seinen heißen Quellen, ist er nicht der einzige regelmäßig Badende. Auch wenn es früher schon mehr Kurgäste waren, meist ältere. Seit vielen Jahrzehnten kommen sie zur Erholung und Entspannung, zur Linderung von Arthritis und rheumatischen Schmerzen. Vor allem aus Österreich und der Schweiz, aber auch aus Bayern, Baden-Württemberg, NRW und vielfach aus den östlichen Bundesländern reisen Urlauber an: Ungarn war zu Zeiten der ehemaligen DDR eines der wenigen und beliebten Auslandsziele.
Hévíz und Balaton: Anreise
über Wien oder Budapest
In letzter Zeit ist es etwas stiller um den Hévíz-Tourismus geworden, zumindest was die Reisenden aus Deutschland angeht. Das liegt zum einen an der weiten, nicht ganz komfortablen Anreise. Zwar gibt es den ideal gelegenen kleinen Balaton-Airport in Sármellék, keine halbe Stunde Autofahrt von Hévíz entfernt, und viele Versuche etablierter Fluggesellschaften, dorthin regelmäßige Verbindungen anzubieten. Doch das rechnet sich offenbar nicht. Zwischenzeitlich war der ehemalige Militärflughafen auch geschlossen, momentan haben ihn nur Privatcharter auf der Liste. Also muss man entweder nach Wien oder Budapest fliegen und mit Bus, Bahn oder Taxi in die jeweils 200 Kilometer entfernte Balaton-Region reisen. Oder mit dem Auto kommen.
Zum anderen empfindet nicht jeder die politische Atmosphäre als einladend. Unter Viktor Orbán habe das Land an Offenheit und Toleranz verloren, bedauern Stammgäste. „Die Leute waren früher noch ein bisschen herzlicher und gastfreundlicher als jetzt“, befand Roberts Schwiegermutter aus NRW zuletzt. Gemeinsam mit ihrem Mann kam sie vor mehr als 20 Jahren das erste Mal her und wurde zum Hévíz-Fan.
Vor dem Ukraine-Krieg stellten Russen mit die größte Gruppe der Auslandstouristen, etliche kauften gar Wohneigentum am und rund um den Plattensee. Einige Häuser, auch in Hévíz, stehen nun leer.
Kritiker sehen den traditionellen Tourismus am Plattensee bedroht
Doch die Region ist natürlich bei den Ungarn selbst sehr beliebt, der Tourismus hat eine lange Tradition.
Von Heviz aus ist es nicht weit zum Plattensee, dem „Meer“ Ungarns: Mit mehr als 235 Kilometern Küstenlinie ist er der größte Süßwassersee Mitteleuropas. Dort trübt derzeit eine andere Privatisierung am Ufer zunehmend die Urlaubsfreude. Unternehmer aus dem Umfeld der nationalistischen Regierung von Viktor Orbán riegelten Strände und Häfen für reiche Touristen ab, kritisieren Einheimische. Wo früher Campingplätze und Parks waren, versperren nun Luxushotels, Apartmentblöcke und Jachthäfen den öffentlichen Zugang zum See. „Ich mache mir ernsthaft Sorgen“, sagt Peter Karpati, der seit fast 40 Jahren im Badeort Balatonföldvar Eis verkauft. „Die Geldgier frisst den See allmählich auf und treibt ihn in den Ruin.“
Kritiker sehen den traditionellen Tourismus am Plattensee durch den Bauboom bedroht. 2,8 Millionen Menschen, überwiegend Ungarn, machen dort jedes Jahr Urlaub. Die Zahlen des staatlichen Statistikamtes zeigen einen Rückgang der Übernachtungen im Juni gegenüber dem Vorjahr; die Gesamtausgaben der Besucher blieben jedoch angesichts von Gentrifizierung und steigenden Preisen gleich.
Eisverkäufer Karpati wirft der Stadtverwaltung vor, Geld für „sinnlose“ Bauprojekte „aus dem Fenster zu werfen“. Er selbst erwägt, sein Geschäft zu verlegen - gegen einen saftigen Scheck von der Stadtverwaltung - um Platz für „einen Großunternehmer aus Orbans System“ zu machen. Verbündete des Regierungschefs kontrollieren seit dessen Rückkehr an die Macht 2010 große Teile der Wirtschaft.
Die Anti-Korruptions-Organisation K-Monitor berichtet von mehr als 50 Bauprojekten rund um den See in der Hand von Orban-Vertrauten. Auch sein Schwiegersohn Istvan Tiborcz soll dazugehören. Gegenüber der Nachrichtenagentur AFP bestreitet Tiborcz diese Angaben. Er sei vor einigen Jahren nur zeitweise beteiligt gewesen. Die Regierung erklärt, sie stelle Gelder für die Tourismusförderung bereit. Kritiker werfen ihr vor, umstrittene Projekte zu finanzieren und dafür notwendige Gesetzesänderungen zu unterstützen.
Bau des Hafens
zweimal gestoppt
Eisverkäufer Karpati kämpft zusammen mit anderen Einheimischen seit Jahren gegen einen Jachthafen am Strand - laut den Aktivisten ebenfalls ein Projekt von Gefolgsleuten Orbans. Der Hafen ist bereits zur Hälfte fertig, zweimal stoppten Richter den Bau wegen mangelnder Bürgerbeteiligung und fehlender Umweltverträglichkeitsprüfung. Jetzt wird jedoch wieder weiter gebaut, nachdem der Stadtrat unter der Führung von Orbans Fidesz-Partei vergangenes Jahr rückwirkend die Bauordnung änderte. „Wenn das hier in Balatonföldvar möglich ist, dann ist kein einziger Strand am Balaton sicher“, warnt Karoly Herenyi, einer der Aktivisten.
Laszlone Szabo macht wie jedes Jahr Urlaub in Balatonföldvar und hat die Petition gegen die Marina unterschrieben. „Der Hafen nimmt den Teil des Weststrandes ein, wo wir uns immer gesonnt und den ganzen Sommer verbracht haben“, sagt die 46 Jahre alte Lehrerin.
Karoly Herenyi ist überzeugt, dass die Regierung eine „neue Aristokratie“ schaffen will, die den See für sich allein hat - wie der Adel vor hundert Jahren. In der Zeit des Kommunismus machten der sowjetische Staatschef Nikita Chruschtschow und der kubanische Präsident Fidel Castro am Plattensee Urlaub, es entstanden viele Gebäude im sowjetischen Stil. Nach der demokratischen Wende in den 1990er Jahren versprachen die Behörden, den Bauboom zu stoppen, doch in den vergangenen Jahren flammte er wieder auf.
Aktivisten schöpfen
neue Hoffnung
Seit der Kommunalwahl haben die Aktivisten, die sich für erschwinglichen Familientourismus engagieren, wieder Hoffnung: Fidesz schnitt schlechter ab, in Keszthely, einer wichtigen Stadt am See, verlor die Regierungspartei das Rathaus. Der neue Bürgermeister Gergely Toth verspricht nachhaltigen Tourismus am Balaton. Bei seinem Amtsantritt im Oktober will er als erstes ein Tor abbauen, mit dem ein Bauunternehmer ohne Genehmigung den Strandzugang versperrte - eine inzwischen übliche Taktik der Immobilienentwickler.
Im Heilbad Hévíz, nur wenige Kilometer westlich des Balaton, sind mögliche Vetternwirtschaft und Korruption am großen See weit weg und kaum ein Thema, sagt eine Anwohnerin: „Zumal es nicht nur Kritik an dem Jachthafen in Balatonföldvar gibt, sondern durchaus auch Zustimmung.“ In Hévíz sei es schon immer eher familiär zugegangen, trotz der vielen internationalen Kurgäste. „Es ist und bleibt ein ruhiger kleiner Ort.“ Ein schöner dazu.