Luxemburg: Kulinarischer Krimi der Unterstadt
Bodenständigkeit und Reichtum gehen hier Hand in Hand. Bisher. Doch jetzt will das Land die Szene locken.
Luxemburg. Während Köchin Claudine rasant Karotten in Juliennestreifen verwandelt, wirft Xavier Kieffer einen Blick in die Kasserole, in der Hasenstücke mit Räucherspeck, Perlzwiebeln und Portwein köcheln: Huesenziwwi, Hasenpfeffer.
Als nächstes nimmt er einen Teller mit zwei Scheiben Rieslingspastete an einer Soße aus Maronen und Honig in die Hand. Gleich wird er die Paschtéit dem einzigen Gast des Abends servieren. In seinem Restaurant „Zwou Kierchen“ in Luxemburg-Stadt kocht Xavier Kieffer ausschließlich moselfränkische Klassiker: Judd mat Gaardebounen, einen deftigen Eintopf aus geräuchertem Schweinenacken und Saubohnen, oder Gromperekichelcher, vor Fett triefende Luxemburger Kartoffelpuffer.
In der vielsprachigen Stadt, gern als „Europa en miniature“ bezeichnet, kommt Kieffer den zugezogenen Deutschen, Briten oder Spaniern kulinarisch keinen Zentimeter entgegen. Tapas oder Schnitzel sucht man auf seiner Speisekarte vergeblich. In einem der reichsten Länder der Welt serviert Kieffer Gästen nichts als rustikale Hausmannkost. Virtuos spielt er mit regionalen Zutaten wie Pilzen, Moselfischen und Wild. Sein Essen schmeckt mörderisch gut. Ein Luxemburger wie aus dem Buch: Xavier Kieffer ist eine Romanfigur.
Mit „Teufelsfrucht“ hat Autor Tom Hillenbrand einen Krimi im Gastronomie-Milieu geschrieben — und zugleich einen exakt recherchierten, kulinarischen Reiseführer zu Luxemburg verfasst. Kieffer, Spitzenkoch, Cordhosenträger und Freund guter Hausmannskost, betreibt in Luxemburg ein kleines Restaurant. Sein Leben gerät durcheinander, als ein Gastrokritiker in seinem Lokal tot aufgefunden wird. Eigenständig versucht er, den Mord zu klären — und gerät dabei in einen Lebensmittelskandal.
Die Luxemburger Unterstadt, Kulisse des fiktiven Restaurants „Zwou Kirchen“, präsentiert sich auch in der Realität wie im Bilderbuch: Ein Pfad führt am Ufer der Alzette vom Stadtteil Grund nach Clausen, vorbei an der Abtei Neumünster mit ihrem spitzen Kirchturm. Nachts leuchtet das gelb verputzte Kloster wie ein Märchenschloss, tagsüber staksen Wasserhühner durch das flache Flussbett. An sonnigen Tagen üben hängende Ahornzweige eine beruhigende Wirkung auf Besucher aus, die Illusion von Beständigkeit in einer hektischen Welt entzückt sie.
In Wahrheit rast der Puls der Unterstadt längst. Seit Künstler den Einheimischen verfallene Häuser abgekauft haben, gilt die Gegend in der Szene als hip. Brasserien bieten durchweg veredelte Regionalküche an, deftig sind nur noch die Preise. Rund um eine restaurierte Brauerei inmitten von Clausen haben sich Cafés, Bars, Clubs angesiedelt. Sternerestaurants servieren Armagnac 1956.
Die Internet-Unternehmen Amazon und Skype haben ihren Hauptsitz wenige Meter von dem Gelände, das wie eine Kopie der Kulturbrauerei in Berlins Prenzlauer Berg wirkt. Fabrikschlote sind verschwunden aus einer Gegend, die einst von Cholera und Tuberkulose erfüllt war. Der Stadtteil hat sich das Gesicht gewaschen und Make-Up aufgelegt.
In „Teufelsfrucht“ macht der Aufstieg der Unterstadt Xavier Kieffer Angst. Wenn er frühmorgens sein Restaurant aufschließt und die umliegenden Fachwerkhäuser mit ihren viereckigen Türmchen noch im Halbdunkel liegen, fürchtet er, dass Horden von Touristen aus Texas das Kleinstadtidyll zertrampeln, sich seine Heimat einverleiben könnten. Schon immer fiel es Luxemburg schwer, seine Identität zu behaupten. Im 19. Jahrhundert gehörte der Kleinstaat zum Deutschen Bund, in der Hauptstadt ist die Nähe zu Frankreich deutlich, die Bürger sprechen neben Letzeburgisch auch Französisch, Deutsch und häufig Belgisch.
Am Wenzelsweg, einem beschilderten Spazierweg für Touristen, reicht der Blick von der ersten Stadtmauer am Bockfelsen bis zum Kirchberg, dem Europaviertel mit seinen zeitgenössischen Bauten: dem Schumangebäude und dem Mudam, dem Museum für moderne Kunst von Star-Architekt Ieoh Ming Pei. Auf engstem Raum drängen sich tausend Jahre Stadtgeschichte.
Krimi-Autor Tom Hillenbrand liebt den Ausblick, seit er vor 15 Jahren ein Praktikum in der EU-Stadt absolvierte. „Luxemburg als Romanschauplatz war ideal: Ich wusste, dass ich den Lesern viel Neues über unseren Nachbarstaat erzählen kann.“
Tatsache ist, dass kaum ein europäisches Land so häufig in den Nachrichten vorkommt und trotzdem so unbekannt bleibt wie Luxemburg. Der Sitz europäischer Institutionen ist das zweitkleinste EU-Land nach Malta, aber das zehntgrößte Finanzzentrum der Welt. Die Hauptstadt hat 90 000 Einwohner — und 130 000 Berufspendler aus aller Welt.
Luxemburgs Charakter scheint mit Kieffers Kochphilosophie treffend charakterisiert: Von ganz Europa beeinflusst, neben allem Reichtum erstaunlich rustikal und bodenständig. Gern wird die Küche mit der französischen verglichen, doch die Nachbarn rümpfen die Nase. Zu vulgär und zu derb erscheint sie ihnen. Zu deutsch, lästern sie.
Die bekannteste Bürgerin des Landes widerlegt diese Vorurteile mit wenigen Handgriffen. In dem für Besucher sonst langweiligen Dorf Frisange serviert die 56-Jährige in ihrem Restaurant Fasanenterrine, Hechtmousse in Hummersoße und Parfait Glacé auf teurem Geschirr. „Sternekoch werden, das ist nicht nur eine Frage des Talents. Es setzt vor allem die Fähigkeit voraus, allabendlich ein außergewöhnliches Brimborium veranstalten“, sagt Xavier im Roman.
Léa Linster besitzt einen Michelin-Stern, als bislang einzige Frau hat sie den Bocuse d’Or gewonnen — den wichtigsten Wettbewerb für Profiköche. Ein allabendliches Brimborium veranstaltet sie trotzdem nicht. „Essen muss nach dem schmecken, was es ist“, sagt sie, während sie eine Schale Bouneschlupp vor Autor Tom Hillenbrand stellt. Die Suppe mit Bohnen, Zwiebeln und Speck duftet nach Winter.
Linster hat Hillenbrands Roman verschlungen, wie man eine Bouneschlupp isst: gierig, schlürfend. „Wer das Buch liest, hat das Gefühl, er isst und trinkt mit. Das ist eine Suppe, die glücklich macht“, antwortet er und taucht den Löffel wieder in die grüne Porzellanschale. „Richtig, darum geht es ja auch beim Kochen: Menschen glücklich zu machen“, sagt Linster und drückt Hillenbrand einen Kuss auf die Wange.
Léa Linster kocht auf Weltklasseniveau, bleibt aber dem Geist der Rezepte ihrer Großmutter treu. Ohne edle Einrichtung und einen Weinkeller von der Größe der Kasematten kann aber auch sie sich gastronomisch und kulinarisch nicht behaupten. Was weltweit gilt, ist auch im Großherzogtum nicht anders: Schlicht und gut reicht manchmal nicht.
„Den Wandel zum In-Viertel hat die Unterstadt längst vollzogen“, glaubt Tom Hillenbrand. Zwar fallen noch keine Busladungen voll Touristen ein. Aber im Sommer gibt es einen Bus, der die ausgehfreudigen Menschen aus der Oberstadt hinunter zu den Bars und Clubs in dem ehemaligen Arbeiterviertel fährt, weil es dort zu wenig Parkplätze gibt.
Das echte Luxemburg ist nicht nur daran interessiert, Kleinstadtidylle und Hausmannskost zu bewahren — es will auch mit dem Tempo der Welt mithalten können, wie seine Besucher und Bewohner es von einem finanz- und weltpolitisch so wichtigen Ort erwarten.