Österreich: Stille Nacht im Salzburger Land

Am Anfang stand ein Gedicht. Geschrieben von einem Geistlichen, vertont von einem Lehrer in Oberndorf. Dann wurde das schlichte Stück zum weltweit gesungenen Weihnachtslied.

Foto: Stille Nacht Gesellschaft

Düsseldorf. Die Zeiten waren hart im Jahr 1816 im Salzburger Land. Das einst prächtige Fürstentum war zum Zankapfel der Mächtigen geworden — der Österreicher, der Bayern und der Franzosen. Die Männer waren verwundet an Leib und Seele aus den napoleonischen Kriegen heimgekehrt. Zu Hause herrschten Not und Armut.

Foto: Wolfgang Radau

Joseph Mohr kannte Armut aus eigenem Erleben. Geboren als viertes uneheliches Kind einer Tagelöhnerin. Der Vater, ein Soldat, schon vor der Geburt von der Fahne gegangen. Sein Taufpate, weil es niemanden sonst gab: der Henker von Salzburg.

Ein Pfarrer aber hatte die Talente des mittellosen Jungen erkannt. Er schickte ihn zur Schule, später aufs Seminar. 1815 wurde Joseph Mohr zum Priester geweiht.

Der junge Hilfspriester (heute Kaplan) hatte nicht nur Latein gelernt, sondern spielte auch Gitarre. Die galt in der Kirche als verpönt — ein Instrument fürs Gasthaus. Mohr ging hinein in die Kneipen, teilte die Nöte der einfachen Leute, erwarb sich den Ruf eines Sozial-Revoluzzers.

Der unangepasste Kaplan wurde hin- und herversetzt. Seine Aufgabe war hart: beschwerliche Wanderungen über die Berge zu Kranken und Sterbenden. Die Kälte machte ihm zu schaffen, ebenso die Einsamkeit ohne Familie. So schrieb er sich 1816, in Mariapfarr im Lungau, sein Leid von der Seele: die Sehnsucht nach Frieden, nach Geborgenheit.

Am Morgen des 24. Dezembers 1818, inzwischen in Oberndorf im Flachgau, gab Mohr sein Gedicht dem Lehrer und Organisten Franz Xaver Gruber, mit dem er sich angefreundet hatte. Gruber sollte das Opus für die Christmette am Abend für zwei Solostimmen plus Gitarre und Gemeinde-Chor vertonen.

Viele Legenden ranken sich um das folgende erste „Stille Nacht“-Singen. Eine Version lautet, das sei eine Notlösung gewesen, weil Mäuse die Orgel unbrauchbar geknabbert hätten. Nett erfunden.

Tatsache ist: Der Orgelbauer Carl Mauracher aus dem Zillertal reparierte im Jahr 1825 die Oberndorfer Orgel, hörte das Lied und nahm es mit ins Repertoire der Zillertaler Heimatsänger. Die zogen jedes Jahr zur Leipziger Neujahrsmesse und besserten ihren Lohn durch Gesangsvorträge auf. So wurde das Lied aus dem Salzburgischen ein „ächtes Tyroler-Lied“ — und in Sachsen erstmals gedruckt.

Jetzt war der Siegeszug nicht mehr aufzuhalten. Johann Hinrich Wichern aus dem „Rauhen Haus“ in Hamburg verbreitete „Stille Nacht“ in den evangelischen Gebieten Deutschlands. Die königliche Hofkapelle zu Berlin recherchierte 1854 (Mohr war schon 1848 gestorben) die tatsächliche Urheberschaft des Liedes. Zillertaler „Nationalsänger“ exportierten es bis nach New York, Missionare nahmen es mit nach China und holländische Kaufleute nach Indonesien.

Mit Verspätung machten sich auch katholische Regionen in Österreich und Süddeutschland das anrührende Lied zu eigen. Heute wird es in mehr als 300 Sprachen gesungen. Und in der eigentlichen Heimat, im Salzburger Land, gibt es überall dort, wo Mohr und Gruber gewirkt haben, Stille-Nacht-Museen, -Plätze, -Gassen und -Gedenkstätten.

In Oberndorf wurde 1937 auf den Trümmern der vom Hochwasser der Salzach zerstörten Uraufführungs-Kirche Sankt Nicola eine Stille-Nacht-Kapelle errichtet. Menschen aus aller Welt pilgern im Advent zum engen Oberndorfer Stille-Nacht-Markt mit dem Stille-Nacht-Postamt.

Im nahen Arnsdorf, wo Franz Xaver Gruber Lehrer war und die Melodie komponierte, ist im alten Schulhaus dokumentiert, wie „Stille Nacht“ 1914 im Krieg an der Westfront für ein paar Stunden für weihnachtlichen Frieden sorgte. Soldaten hüben und drüben legten für einige Zeit ihre Waffen nieder und sangen und feierten gemeinsam im Niemandsland.

In Wagrain im Pongau liegt Mohr begraben. Sein Schädel ist 1920 exhumiert worden, weil man in Oberndorf sein Gesicht für eine Bronzeskulptur rekonstruieren wollte. Der Kopf kehrte nie zurück. In Hallein im Tennengau, wo Gruber begraben liegt, bewahrt das Museum die Original-Partitur des Liedes auf.

In Salzburg schließlich erinnert eine schlichte Tafel an den Tag seiner Geburt am 11. Dezember 1792. Die Tafel ist von 1968 — inzwischen weiß man, dass Mohr nicht dort, in der heutigen Steingasse 9, sondern zwei Häuser weiter geboren wurde. Der Autor reiste mit Unterstützung von Salzburger Land Tourismus.