Ostfriesland: Der schiefe Turm von Suurhusen
Mit einer großen Portion Gottvertrauen geht es zum feierlichen Gottesdienst in die „Alte Kirche“.
Düsseldorf. An hohen Kirchenfesten wie Weihnachten, Ostern und Pfingsten lässt Frank Wessels (40), Pastor im ostfriesischen 1100-Seelen-Ort Suurhusen bei Emden, in jedem freien Winkel seiner Kirche Stühle aufstellen. Seitdem die 850-jährige „Alte Kirche“ mit dem schiefsten Turm der Welt einen Guinness-Weltrekord hält, kommen Touristen aus aller Welt zu den Gottesdiensten. Da reichen die 250 Plätze auf den Kirchenbänken nicht aus.
Obwohl die Kirchgänger leicht den Eindruck gewinnen können, dass der schiefe Turm jeden Moment seitlich wegkippen könnte.
Nach der letzten amtlichen Messung haben Statiker ein Sicherheitszeugnis ausgestellt: Der 25,70 Meter hohe und 2116 Tonnen schwere Turm sei trotz eines Überhangs von 2,47 Metern und einer Abweichung von 5,19 Grad gegenüber der Senkrechten hinreichend standfest. Pastor Wessels betrachtet die Schieflage zweigleisig: „Ich vertraue den Wissenschaftlern, aber ich gehe auch mit einer gehörigen Portion Gottvertrauen in meine Kirche.“
Eine Schieflage fiel schon im Jahre 1885 auf. Als vier Jahrzehnte später erstmals ordentlich vermessen wurde, betrug der Überhang 1,13 Meter. Zur Entlastung wurde daraufhin der Dachreiter entfernt. Doch die Schieflage schritt fort.
Als der Überhang 1970 bei 2,16 Metern lag, wurde die Kirche gesperrt. Pastor Wessels: „Die Fenster wurden zugenagelt, die Kirche war dem Verfall preisgegeben.“ Gottesdienste fanden seit 1975 in einer neuen Kirche statt.
Doch die traditionsbewussten Suurhuser wollten ihr Gotteshaus nicht aufgeben: „Hier haben unsere Vorfahren bei Sturmfluten und Kriegen Zuflucht gefunden.“
Mit 200 000 Mark von Spendern und aus der niedersächsischen Landeskasse begann 1982 die Sanierung. Zu diesem Zeitpunkt betrug der Überhang schon bedrohliche 2,34 Meter.
Untersuchungen ergaben, dass der Turm vor 560 Jahren auf Eichenbohlen gegründet worden war. Das Holz wurde vom Grundwasser umspült und so konserviert. „Im Zuge des Deichbaus sank das Grundwasser, die Bohlen standen im Trockenen und zerbröselten“, weiß Ailt Dirks, der zusammen mit zwei weiteren Rentnern die Schlüsselgewalt für die Kirche hat und Besucher durchs Gebäude führt.
Spezialisten pflanzten ein neues Fundament aus elf Eisenbetonpfählen unter den Turm. Der Giebel bekam ein hartes Stahlkorsett. So konnte die Kirche 1985 wieder eröffnet werden.
Doch 1996 war der Überhang auf enorme 2,43 Meter angewachsen. Bis zur letzten amtlichen Messung im Jahr 2007 kamen sogar noch weitere vier Zentimeter hinzu. Ailt Dirks: „Man vermutet, dass sich der Turmbau erst auf die neuen Betonpfähle absenken musste. Jetzt ist aber Ruhe.“
So ganz genau weiß man das allerdings nicht. Die Ergebnisse von Messungen, die Statik-Studenten in den vergangenen Jahren vornahmen, werden weiter geheim gehalten.
Feststeht: Mit einer Neigung von 5,19 Grad verweist Suurhusen den schiefen Turm von Pisa mit seiner Neigung von 4,19 Grad klar auf den zweiten Platz.
Die Guinness-Urkunde ist für Suurhusen besonders wichtig, weil der Ort — bis auf die Rekorde des örtlichen Kaninchenzuchtvereins und eine schöne Landschaft — eher wenig zu bieten hat.