Uruguay Zwergstaat am Rio de la Plata

Die kleine Nation Uruguay schlummerte lange am Rande des Weltgeschehens. Doch nun hat sie sich mit Gaucho-Kultur, Strandleben und kolonialer Architektur zum angesagten Reiseziel entwickelt. Auch dank ihrer politischen Stabilität und vergleichsweise hohen Sicherheit.

Bootsfähre und Pferde an der Einfahrt vom Atlantik in die Laguna de Castillo im Nationalpark Cabo Polon.

Foto: Oliver Gerhard

Der Wind heult. Die Brandung tost. Schaumfetzen lösen sich aus den Wellenkämmen und schießen wie kleine Raketen über den Sandstrand. Frühlingssturm in Cabo Polonio – bei strahlendem Sonnenschein. Nur eine Handvoll Spaziergänger ist zu dieser frühen Morgenstunde unterwegs: Die Hippie-Gemeinde an Uruguays Atlantikküste wird ihrem verschlafenen Image gerecht.

An dieser „Riviera Südamerikas“ reihen sich einsame Sandstrände aneinander, dahinter liegen Lagunen, in denen Zugvögel brüten und Fischer traditionell Shrimps fangen. Nur wenige Straßen führen durch die Provinz Rocha, das Dorf Cabo Polonio ist bis heute nur zu Fuß oder mit einem Lkw-Shuttle erreichbar. Im Stundenrhythmus dröhnen die leuchtend gelben Laster mit Passagieren auf der Ladefläche durch die Dünenlandschaft in den Ort.

Der Moment der Hektik ist schnell wieder vorbei, sobald die Besucher zu den wenigen Unterkünften ausgeschwärmt sind. In Cabo Polonio gibt es keine Luxushotels, keinen Strom, keinen Telefonanschluss. Sandwege führen vorbei an wackligen Holzhütten, kleinen Häusern mit bunten Wandgemälden, Windrädern, Wassertanks und Mauern aus Altglas. Dazwischen grasen Pferde, spielen Kinder, streunen Hunde.

Bevor Hippies und Künstler den Ort in den 1960er-Jahren übernahmen, lebten dort nur ein paar Fischer und Robbenjäger. „Wir haben die Seelöwen eingekesselt und erlegt“, erinnert sich Flavio Machado. Der einstige Leuchtturmwärter und heutige Hotelier gehört zu den letzten Alteingesessenen. Als die Jagd 1991 verboten wurde, waren die Seelöwen fast ausgerottet.

Heute tummeln sich an der Küste und am Fuß des rot-weiß gestreiften Leuchtturms wieder bis zu 90 000 Exemplare, bewacht von Rangern des Nationalparks Cabo Polonio. „Ich mag die besondere Atmosphäre dieses Ortes“, sagt Manuel Cardozo, mit 25 Jahren der jüngste im Team. Er verbrachte schon seine frühe Kindheit im Ort: „Als Kind findet man das toll, aber später fehlt einem die moderne Technologie“, sagt er lachend und zeigt auf sein Handy.

Pferde schwimmen
hinter der Fähre her

Mit einem Quad saust Cardozo morgens auf Patrouillenfahrt am Strand entlang. Die Räder singen auf dem Sand, Schwalben fliegen im Spiel neben ihm her. Auf einer Dünenkuppe macht der Ranger Halt, der Sand peitscht wie Nadelstiche ins Gesicht. Auf der anderen Seite der Düne rudert ein Fährmann gerade Passagiere über eine Flussmündung – deren Pferde schwimmen einfach hinterher.

Zurück im Ort, fällt ein Wandgemälde besonders ins Auge: Es zeigt den Ex-Präsidenten José Mujica, der von 2010 bis 2015 Reformen wie die Homo-Ehe, die Liberalisierung der Abtreibung und die Freigabe von Marihuana anstieß. Uruguay gilt heute nicht nur als eines der fortschrittlichsten Länder in Südamerika. Es hat vorbildliche Sozialleistungen und ist führend in der Digitalisierung, so bekommt jeder Schüler einen Laptop und auch die Rentner werden digital ausgestattet.

Die Nachbarländer mit ihren sozialen Problemen blicken neidisch auf den Staat mit seinen knapp dreieinhalb Millionen Einwohnern. Dennoch wurde Mujicas Partei kürzlich abgewählt – die seit Anfang März regierende rechtskonservative Regierung kündigte Einschnitte bei den Sozialleistungen, Privatisierungen und Steuersenkungen für Unternehmer an. Viele befürchten den Verlust ihrer liberalen Rechte.

Die meisten Uruguay-Besucher kommen bislang nur für einen oder zwei Tage mit der Fähre von Buenos Aires über den Rio de la Plata. Sie flanieren durch das Örtchen Colonia del Sacramento, dessen Altstadt mit Relikten portugiesischer und spanischer Kolonialherren zum Weltkulturerbe gehört, oder gehen shoppen in Montevideo, mit 1,5 Millionen Einwohnern die Hauptstadt des Landes.

Erste Szenelokale mit Möbeln
vom Trödelmarkt

Entwicklungen, die in anderen Metropolen schon lange gang und gäbe sind, haben Montevideo gerade erst erreicht: Es gibt erste Szenelokale mit Möbeln vom Trödelmarkt, einen Foodmarkt in alten Industriehallen, erste Nachbarschaftsgärten und sogar ein oder zwei vegetarische Restaurants. Doch Vegetarier oder gar Veganer werden hier immer noch schief angesehen: Die Uruguayer sind leidenschaftliche Barbecue-Fans.

Gleich hinter der Stadtgrenze beginnt die Pampa, das Land der Gauchos, Estancias und Rinderherden. Die Geschichte Uruguays nahm hier ihren Anfang: Jesuiten brachten Anfang des 17. Jahrhunderts Rinder ins Land und ließen sie frei laufen – betreut von umherstreifenden Gauchos. Im Laufe der Zeit entstanden Estancias mit riesigem Landbesitz, die den Grundstein für den Reichtum des Landes legten.

Doch die Zeiten haben sich auch auf dem Land geändert, der Beruf des Gauchos ist moderner geworden, seine klassische Arbeit mit dem Lasso wird immer mehr zur Folklore. Anstatt Vieh zu treiben, führen viele jetzt Touristen durch die Pampa. Meist schweigsam – denn das Reden will geübt sein.

Gauchos führen Besucher
durch die Landschaft

Auch Federico de León auf der Finca Piedra lässt sich beim Ausritt mit Gästen nur schwer ein paar Worte entlocken. Der junge Gaucho mit Baskenmütze, Lederstiefeln und Arbeitsmessern im breitem Gürtel führt durch die Wiesen der Sierra de Mahoma. „Steinernes Meer“ wird diese wilde Landschaft 130 Kilometer nordwestlich von Montevideo auch genannt.

Irgendwann taut er doch ein wenig auf, und erzählt, wie er als Zwölfjähriger anfing, mit Pferden zu arbeiten: „Es ist nicht schwer zu lernen, aber du musst es lieben.“ Nur einmal wurde er seinem Beruf untreu, um sich als Maurer seinen Hausstand zu verdienen, dann kehrte er zu seinen Wurzeln zurück.

Der 33-Jährige scheint mit seinem Sattel verschmolzen zu sein, mit kaum merklichen Bewegungen dirigiert er sein Pferd, nebenbei dreht er sich mit einer Hand noch eine Zigarette. Zwischendurch durchquert der kleine Trupp eine Rinderherde. Federicos Augen leuchten, als er ein paar Kälber zurück zur Mutter treibt. „Das macht mir am meisten Spaß“, sagt er – und seine Gäste fühlen sich einen Moment lang etwas zurückgesetzt. Doch dann reiten alle unbeschwert tiefer ins Land, vor sich nichts als die unendliche Pampa.

Der Autor reiste mit Unterstützung des Tourismusministeriums von Uruguay.