Neuer Szenekiez: Berlin-Neukölln ist hip geworden
Berlin (dpa/tmn) - Neukölln haftet immer noch das Image eines Problembezirks an. An junge Partytouristen oder ein verwunschenes Idyll dachte bei diesem Stadtteil Berlins lange niemand. Aber nicht nur Insider wissen inzwischen: Neukölln hat sich gemausert.
Die Zigarette zündet er sich an, als stünde er im Wind, mit gesenktem Kopf und vorgehaltener Hand. Dabei sitzt Heinz Schwarzzenberger nur im zugigen Keller seiner Kneipe „Ä“. Er mag es nicht, wenn jemand sie eine Szenekneipe nennt. Dabei kann er nicht leugnen, dass ihm seit der Eröffnung 2007 die hippe Jugend die Bude einrennt. Das „Ä“ liegt nicht etwa in Kreuzberg oder Friedrichshain - sondern in Neukölln, Berlins Problembezirk par excellence.
Seinen Ruf hat der Stadtteil nicht ohne Grund: Laut dem Berliner Quartiersmanagement gibt es in keinem anderen Stadtteil so viele Gegenden, die von Armut und sozialer Benachteiligung geprägt sind. Spätestens der Hilferuf der Lehrer der Rütli-Schule im Jahr 2006 machte den Stadtteil bundesweit als vermeintliche No-Go-Area berühmt.
Dabei hat Neukölln Städtetouristen mit seiner ausgeprägten Kulturszene einiges zu bieten. Schon seit 1999 gibt es zum Beispiel beim Festival 48 Stunden Neukölln ein Wochenende lang Theater, Lesungen und mehr zu sehen.
Problembezirke ziehen Kreative an. „Weil es billig ist“, erklärt Reinhold Steinle, der Stadtführungen durch Neukölln anbietet. Heute seien dort aber längst nicht nur Künstler zu Hause: „Seit einem Jahr ziehen so viele junge Leute hierher, in einem Ausmaß, das sich kein Mensch vorstellen kann.“ Auf seiner Tour entpuppt sich Neukölln mitunter als verkanntes Idyll. Er zeigt verwunschene Gärten, Kopfsteingassen und historische Fachwerkhäuser. Fast ländlich wirkt Neukölln rund um den Richardplatz und die alte Rixdorfer Schmiede südlich der Sonnenallee. Das passt so gar nicht zum alten Schmuddel-Image Neuköllns.
Wer Schwarzzenberger mit diesem Image konfrontiert, muss lange auf eine Antwort warten. Der ehemalige Hausbesetzer zieht an seiner Zigarette, dass die Wangen hohl werden, und schweigt, bis man schon denkt, jetzt kommt nichts mehr. Aber dann: „In Berlin gibt es wie in jeder Großstadt viele böse Menschen. In Neukölln sind einige davon allerdings sehr laut. Das aber auch nur in wenigen Ecken.“
Besonders in Nord-Neukölln, an der Grenze zu Kreuzberg zwischen Landwehrkanal und Sonnenallee, hat sich der Bezirk in den vergangenen drei Jahren gewandelt. Kreuzkölln nennen deshalb manche Berliner die Gegend, eine Art Hybrid-Kiez also. Und mittendrin: die Weserstraße mit dem „Ä“. Dort reiht sich heute eine Kneipe an die nächste. Die Gäste sind junge Hauptstadttouristen, Backpacker und Studenten. Sie suchen in Neukölln das, was sie von Berlin erwarten: eine lässige Abgeranztheit, neue Musik, Läden mit Oma-Möbeln und ohne Tapeten. Zum Mythos des jungen Berlins passt auch der „Hüttenpalast“. In dem Kreuzköllner Hotel übernachten die Gäste nicht in Zimmern, sondern in Wohnwagen und kleinen Holzhütten in einer alten Fabrikhalle.
Die Weserstraße runter liegt einer der Läden, die man erst auf den zweiten Blick als Kneipe erkennt: das „Gelegenheiten“. Früher hingen in der ehemaligen Fleischerei Würste und Speck, jetzt sitzen dort junge Menschen mit verfilzten Haaren und Cordhosen und trinken Bier. Und wie um die neue Unbeschwertheit des Stadtteils in Worte zu fassen, hat jemand mit rotem Lippenstift an der Scheibe die Lyrikerin Hilde Domin zitiert: „Ich setzte den Fuß in die Luft, und sie trug.“