SOUNDTRACK FÜR DEN SOMMER „Ein italienischer Sommer“ in Moers

Im Juli 1990 wurde die deutsche Fußball-Elf Weltmeister. Italo-Rockröhre Gianna Nannini und Edoardo Bennato sorgten mit „Un’ estate italiana“ für die offizielle Hymne.

Moers. Es ist die 85. Minute, die Luft in der kleinen Moerser Kneipe ist zum Schneiden, etwa 150 Menschen halten den Atem an, starren auf einen viel zu kleinen Monitor von überragend schlechter Bildqualität. Ich drehe mich um. Ich will das nicht sehen, ich kann es nicht. Brehme, ausgerechnet unser Fußball-Philosoph („Haste Scheiße am Fuß, haste Scheiße am Fuß“) hat sich den Ball geschnappt. Wo ist Loddar? Die Sekunden verrinnen zäh wie abgelaufener Akazienhonig. Dann steht die Kneipe Kopf, ach was, die gesamte Nation. Und ich mittendrin. Blutjung, selbst leidlich begabter Fußballer und ich habe eine neue Freundin: Sie heißt Gianna Nannini.

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1990 ist der Sommer der kolumbianischen Fußball-Clowns Valderrama und Higuita, frustrierter, spuckender Holländer, immerjungen Millas, wirklich jungen Baggios und einem Überraschungstorjäger Toto Schilacci. Es ist „Un’estate italiana“, ein italienischer Sommer.

Die Weltmeisterschaften haben Fußball-Deutschland, traumatisiert von zwei hintereinander verlorenen Finals, im Griff. ‘82 haben uns die Italiener vermöbelt, ‘86 die Argentinier, Zeit, die Hand Gottes übers Knie zu legen. Und wenn es nur die Baumstämme von Guido Buchwald sind. Emotionen pur. Und wieder und wieder röhrt Gianna Nannini ihre Sommerhymne, die mir eine Gänsehaut bereitet. Ich kann mich bestens daran erinnern. Auch, weil es auf den ersten Ton gar nicht passt. Ich bin der kurzhaarige Kumpel der Kuttenträger-Combo unserer Oberstufe. ACDC, Rage against the machine, DAD, Offspring, Skid Row und natürlich Metallica, weil „nothing else matters“. Gute Zeiten.

Mein Freund Micha hat das nötige Taschengeld, sich mit der neuesten Mucke einzudecken. Streamingdienste gibt’s zu dieser Zeit vielleicht auf der Enterprise, Spotify ist noch nicht geboren, die Ware Musik kostet Geld. Micha macht für ein paar Mark Abzüge, wir sind versorgt. Mit Heavy Metal und Rock. Meine Freunde hätten ihre halbwüchsigen „Männer“-Nasen gerümpft, aber mich trifft diese Gianna Nannini mit ihrer Italo-Hymne mitten ins Herz. Ich habe ohnehin ein Faible für Italien.

Ich wachse in einem Hochhaus auf, auf unserer Erdgeschoss-Etage lebt eine italienische Familie. Ich bin beeindruckt. Von der Tatsache, dass sie es schafft, mit vier Kindern in einer Wohnung zu leben, die so groß ist wie unsere. Und das in Harmonie. Von der Mama, die eine Tomatensoße kocht, die einem noch in der vierten Etage das Wasser im Munde zusammentreibt. Von der Musik, die mein Freund mir übersetzt. „Per Elisa“ von Alice ist so eines, „Gente Di Mare“ von Tozzi und Raf, natürlich Eros’ „Adesso tu“.

Und dann ist da eben noch die Schwester des Formel-1-Piloten Alessandro Nannini, die nach Knallern wie wie Bello e impossibile 1986 und I maschi 1988 gemeinsam mit Edoardo Bennato die offizielle WM-Hymne „Un’estate italiana“ raushaut. Nicht ihr eigenes Lied, sondern die italienische Fassung des von Giorgio Moroder komponierten „To Be Numbers One“.

Bei der offiziellen Auslosung 1989 in Rom schauen eine halbe Milliarde Menschen an den Bildschirmen zu, als Nannini und Bennato erstmals ihre Version vortragen, wahrnehmen werde ich sie erst beim Eröffnungsspiel 1990 im Guiseppe Meazza Stadion in Mailand. Zu diesem Zeitpunkt habe ich zwei Jahre lang Italienisch als Fremdsprache. Den Text finde ich doof. „Verzauberte Nächte, einem Goal hinterher, unter dem Himmel eines italienischem Sommers“. Naja. Aber als der Brehme Andi in seiner unnachahmlichen Art oben das Licht ausknipst, um unten das Ding einfach reinzumachen, ist mir das ziemlich egal.

Wenn Gianna Nannini von italienischen Nächten singt, stehe ich in der kleinen Moerser Kneipe und werde Weltmeister. Noch Jahre später, irgendwann verliert es sich.

Satte 16 Jahre später habe ich eine Art Déjà-vu mit diesem Song. Als sich Italien beim deutschen Sommermärchen mit dem Titel krönt, spielen sie „Un’estate italiana“ nach dem Endspiel im Berliner Olympiastadion. Eine schöne Geste. Gänsehaut bekomme ich keine mehr, aber ich freu mich. Ich habe ein Faible für Italien.