Eurovision Song Contest Fünf Lehren aus dem deutschen ESC-Desaster
Deutschland gehört zu den „Big Five“ (mit Frankreich, Spanien, Großbritannien und Italien), die das meiste Geld für den ESC bezahlen. Dafür ist ihnen ein Platz im Finale sicher. Die Argumentation geht so: Ich zahle, also will mein Zuschauer mich im Finale sehen. Vorschlag: Vom Fußball lernen. Da wollen die Deutschen auch Deutschland sehen. Aber der Kauf von Übertragungsrechten ist keine Teilnahme-Garantie. Es ist okay, wenn die ARD für die Übertragung der Europameisterschaft im Singen Geld locker macht. Aber Platz im Finale sollte sich der deutsche Beitrag im Wettbewerb verdienen. Es ist doch ein schlechter Witz, dass Wieheißtdienochmal nach Kiew fährt, aber Helene Fischer auf der ESC-Party auf der Reeperbahn singt.
Auch wenn sie es beim NDR nie kapieren werden: Beim ESC stimmen nicht die Deutschen darüber ab, ob ihnen der deutsche Beitrag gefällt, sondern alle anderen Teilnehmer-Länder. Deshalb wäre ein Auswahlverfahren gut, das sich am Geschmack Europas orientiert — statt an deutschen Einschaltquoten für die Vorauswahl. Denn der deutsche Musik- und TV-Geschmack ist in Europa nicht mehrheitsfähig. Niemand hört im Ausland den Singer-Songwriter-Kram der „Hamburger Schule“, die im Ausland erfolgreichste deutsche Band wird in Deutschland praktisch von keinem Radiosender gespielt. Sie heißt übrigens Rammstein.
Wenn die deutsche Musikindustrie kein Interesse daran hat, den ESC für deutsche Erfolge zu nutzen, dann sollte sie auch nicht im Hinterzimmer (gern im Anschluss an die Echo-Verleihung, wie man seit Jahren hört) Einfluss darauf nehmen dürfen. Andere Länder schicken ihre ESC-Kandidaten vorher auf Tourneen durch die TV- und Radio-Stationen der Länder, deren Stimmen man gerne hätte. Da der deutsche Final-Platz (bezahlt vom Gebührenzahler) ja immer feststeht, sparen sich die Plattenfirmen das Geld. Die deutschen Interpreten beim ESC sind wie jetzt Levina nur noch die Blöden, die den popmusikalischen Konfektions-Mist von der Reste-Rampe dann vortragen dürfen.
Seit der Goethe-Zeit ist in Deutschland der Glaube unausrottbar, dass die besten Leistungen entstehen, wenn ein heller Kopf allein in Zimmer vor sich hin denkt. Deshalb werden bei uns die Tatort-Drehbücher von Einzelkämpfern statt von professionellen Autoren-Teams geschrieben, deshalb wird die Finanzierung von Popmusik-Professuren der Kleingeisterei von Stadträten (wie zuletzt in Düsseldorf) überlassen, deshalb gibt es die höchsten Kultur-Subventionen für Hervorbringungen mit der geringsten Publikumsresonanz. Der Glaube, dass Genies auf dem Feld, im Wald und auf der Wiese wachsen, hat Folgen: Die Schweden dominieren dank staatlicher Hilfen für Musiker statt Musikhändler den europäischen Musikmarkt, die ARD wird nie ein deutsches „CSI“ oder „House of Cards“ produzieren, und kein Almosenempfänger des Literaturbüros NRW jemals einen internationalen Bestseller schreiben. Statt dessen wird in Masse Feld-, Wald- und Wiesen-Kultur produziert, die im internationalen Vergleich chancenlos ist.
Wenn Sie ihn nicht kennen: Thomas Schreiber (57), leitender NDR-Mitarbeiter, ist seit 2007 Unterhaltungskoordinator der ARD und für den ESC verantwortlich. Er gilt wahlweise als selbstbewusst bis zur Arroganz-Grenze oder aber als die hellste Kerze auf der traurigen Torte der ARD-Unterhaltung. Schreiber hat Stefan Raab und ProSieben ins Boot geholt und so den Erfolg von Lena 2010 möglich gemacht. Er wollte 2016 Xavier Naidoo ohne Vorentscheid zum ESC schicken und wurde von der ARD-Hierarchie zum Rückzug gezwungen. Am Morgen nach dem Desaster ist immer Schreiber schuld. Nicht wenige ARD-Höflinge, die selber zu blöd wären, das Topfschlagen beim Kindergeburtstag zu organisieren, werden jetzt aus Phantasiemangel wieder seinen Rücktritt fordern. Schreiber sollte diesmal, nach zehn Jahren, tatsächlich hinschmeißen — aber nicht, weil er mal wieder schuld ist, sondern weil man so einfach nicht arbeiten kann.