Oskar Gottlieb Blarr: Jesus — ein Rebell mit der Kraft eines Helden

Komponist Oskar Gottlieb Blarr ist nach Israel gereist, um seinem Helden näher zu kommen. Ihn fasziniert Jesu Selbstbewusstsein.

Foto: Sergej Lepke

Düsseldorf. Seit seiner Jugend begleitet Oskar Gottlieb Blarr die Faszination an der großen Gestalt, die das Christentum begründete. Vier umfangreiche Oratorien hat der Düsseldorfer Komponist und ehemalige Neander-Kantor zwischen 1985 und 2011 Jesus Christus gewidmet.

Herr Blarr, was war Ihre erste große geistige Begegnung mit Jesus?

Oskar Gottlieb Blarr: Die erste Jesus-Darstellung, die mich fasziniert hat, war das gotische Kruzifix in der 1380 erbauten Kathedrale in meiner ostpreußischen Heimatstadt Bartenstein. Es handelte sich um eine riesige Plastik. Vielleicht war es für mich auch so ein gewaltiger Eindruck, weil daneben die große Barockorgel stand — für mich optisch untrennbar miteinander verbunden. Das sind Eindrücke, die man nie vergisst.

Auf welchen Wegen sind Sie ihm nahe gekommen?

Blarr: Im Jahr 1968 reiste ich mit meiner Frau zum ersten Mal nach Israel, das damals gerade den Sechstagekrieg gewonnen hatte. Für die Politik habe ich mich nicht sehr interessiert. Aber mich hat die Heimat Jesu fasziniert. In Galiläa sind wir gut rumgekommen, und man meint, man findet irgendwelche Spuren aus der Zeit. Wir sahen die uralten Ölbäume im Garten Gethsemane, die Treppen am Berg Zion, Stufen, die zum Gefängnis Jesu führten. Wir waren auch am Tempelberg. Die dortigen Stufen der Hulda-Treppe sind abwechselnd kurz und lang wie Bachs Passacaglia-Rhythmus. Aus diesem Grund kommt dieser Rhythmus auch in meiner Jesus-Passion vor. Wir hörten auch Vogelstimmen von Arten, deren Gesang schon Jesus gehört haben muss.

War Jesus für Sie ein Held?

Blarr: Nun, jeder macht sich seinen Jesus zurecht. Aber eines ist er auf jeden Fall nicht gewesen: ein bequemer Zeitgenosse. Zeugen berichten von der Wucht seiner Predigten. Jesus habe gewaltig gepredigt und nicht wie die Schriftgelehrten. Er ist schon eine gewaltige Figur gewesen, ein großer Rebell mit der Kraft eines Helden. Von Mut und Selbstbewusstsein zeugt allein seine Predigt vor dem Establishment im Tempel. Er wusste, auf welche Gefahr er sich einließ, als er den Tempelfrieden mit Rom störte. Das war größtes Risiko.

Aber er galt doch auch als sanftmütig, oder?

Blarr: Ja, „Selig sind die Sanftmütigen“, heißt es in der Bergpredigt. Aber es schließt sich ja nicht aus, dass jemand ein gewaltiges Auftreten hat und gleichzeitig ein großer Menschenfreund ist. Jesus war ja kein Hassprediger. Die Romantiker haben in Jesus vor allem den Lieblichen gesehen, den weichen Typen. Aber das war er mit Sicherheit nicht. Er war kein mittlerer Postbeamter aus Kapernaum, er war viel mehr.

Halten Sie Zweifel an der Messias-Identität Jesu für berechtigt?

Blarr: Es gibt eine sehr frühe Schmähschrift mit dem Titel: „Das Leben Jesu“. Dort wird Jesus als Abtrünniger beschrieben. Eines ziehen die Kritiker aber nicht in Zweifel: seine Wunder. Das Heilungs-Potential muss gigantisch gewesen sein. Das stellen sogar seine Feinde nicht in Abrede. Darum bezeichnen sie ihn in dem Buch als eine Art Zauberer.

Hat die Beschäftigung mit Jesus immer wieder neue Facetten?

Blarr: Bei der Arbeit an meiner jüngsten Komposition, „Der siebte Engel“, habe ich mich mit dem Komponisten Luigi Nono beschäftigt. Er entstammte einer alten jüdischen Familie aus Venedig. Nono sah in der Musik „die kleine messianische Kraft“. Er wollte mit seinem Werk in die Gesellschaft hineinwirken und ist zu den Arbeitern in die Fabriken gegangen und hat ihnen seine Musik erklärt. „Ich muss zu denen gehen, die es am meisten brauchen“, hat er gesagt. Dieses Messianische geht — wie bei Jesus — auf die jüdische Tradition zurück. Musik nicht als seichte Unterhaltung, sondern als Zeugnis der Menschenwürde.

Welchen ganz persönlichen Reim machen Sie sich aus all den Studien rund um Jesus?

Blarr: Es war der erwartete Messias, der, der endlich kommen musste. Er platzte hinein in eine schlimme, von Korruption geprägte, apokalyptische Zeit. Und seine Strahlkraft überdauert nun schon 2000 Jahre. Es gab für mich immer Phasen, in denen ich mich mit Jesus besonders beschäftigt habe. Dabei halfen mir Persönlichkeiten und Begegnungen, etwa mit dem jüdischen Religionswissenschaftler David Flusser. Schalom Ben-Chorin, der Dichter Pinchas Sadeh und die Lektüre von Albert Schweitzers Jesus-Büchern oder das Werk Luigi Nonos haben meine Beziehung zu Jesus immer weiter vertieft.