Der Tango macht süchtig
Jeden Montag wird die „Kulisse“ in der Fabrik Heeder zum eleganten Salon. Beim Tanzen ist der Mann gedanklich ganz bei seiner Partnerin.
Krefeld. Auf der Fensterbank des kargen weißen Raums steht ein tragbarer CD-Spieler, aus den Boxen klingt "Solver" von Carlos Gardel. Ein halbes Dutzend Paare bewegt sich - gedanklich tief versunken - über den schwarzen Boden, auf den Gesichtern ein Ausdruck höchster Konzentration.
Die eigentümliche Atmosphäre nimmt die Phantasie des Zuschauers mit nach Buenos Aires, in eine verrauchte Kneipe mit schummrigem Licht. Es ist die Magie des Tango, die sich hier in der Tanzschule "La Cumparsita" in der Fabrik Heeder entfaltet.
Plötzlich drückt ein Mann auf den Pausenknopf des CD-Spielers. Die Paare bleiben stehen, bilden einen Kreis um ihn und spitzen die Ohren. Einige zücken sogar ihre Videohandys, um nichts zu verpassen.
Ard Huiberts, der Leiter und Gründer der Tangoschule, erklärt eine neue Figur und führt sie gemeinsam mit seiner Tanzpartnerin Andrea Stegmaier vor. "Versucht die Achse der Frau, also ihre senkrechte Haltung, auch während des Drehmoments zu retten", sagt er. "Die Umarmung bleibt eng, die Beine müssen arbeiten."
Achse, Drehmoment, Arbeit: Die Begriffe klingen statisch und technisch, die Bewegungen hingegen wirken fließend und ganz natürlich - zumindest bei Huiberts und Stegmaier. Die gebürtige Chilenin und der in Amsterdam geborene Niederländer haben sich über einen gemeinsamen Bekannten kennengelernt. "Ard hat vor rund drei Jahren nach einer neuen Partnerin gesucht", erzählt sie. "Und die Chemie hat bei uns sofort gestimmt."
An Huiberts schätzt sie vor allem zwei Eigenschaften: "Ards lockere Art sorgt dafür, dass alle Spaß haben und entspannt sind beim Unterricht", sagt sie. "Außerdem lautet seine Devise, dass sich vor allem die Frau beim Tango wohlfühlen soll."
Die Damen sind die Hingucker in der Runde, elegant angezogen für den Tango-Salon in der Kulisse, der jeden Montagabend stattfindet. Dort können sie Erlerntes anwenden. Alle Frauen tragen hochhackige Schuhe, aber nicht nur aus ästhetischen Gründen. "Das Gewicht lastet beim Tango auf dem Vorderfuß", erklärt Andrea Stegmaier. "Hohe Schuhe helfen, die richtige Haltung einzunehmen." Sonst muss man nicht viel beachten und auch kein Naturtalent sein. "Wer gehen kann, kann auch Tango tanzen", verspricht Huiberts.
Gabriele Schürenberg, eine Kurs-Teilnehmerin mit langen weißen Haaren, strahlt, als sie von ihrem Lehrer aufgefordert wird. "Ards Art zu tanzen ist einfach genial", sagt sie. "Seine Bewegungen sind weich, fließend, natürlich - und fühlen sich richtig gut an. Er führt sehr sanft, das ist fantastisch."
Als der Niederländer den Tango-Salon in der Kulisse betritt, bildet sich sofort eine Traube williger Tänzerinnen um ihn. Vielleicht weniger wegen seines Könnens, sonder mehr wegen des Gefühls, das er ihnen vermittelt, wenn sie langsam mit ihm ihre Runden über das Parkett drehen.
"Während du tanzt, bekommst du die volle Aufmerksamkeit des Partners und das ist ein wunderschönes Gefühl, das auch ein bisschen süchtig macht", erklärt Andrea Stegmaier den Reiz des Tango, der von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt wurde. "Es passiert ja heute sonst eher selten, dass jemand in einem Moment voll bei dir ist."