Ein Chromosom zu viel
Am Donnerstag ist Tag des Down-Syndroms. Tim Kurpjuweit hat gelernt, mit dem Gen-Defekt zu leben.
Krefeld. Laut lachend wuselt Tim durch die Wohnung, vom Kinderzimmer ins Wohnzimmer, dann zurück zum Esstisch. Der Neunjährige ist kaum zu bremsen, er hat gute Laune — wie eigentlich fast immer. Denn Tim hat das Down-Syndrom, auch Trisomie 21 genannt. Statt 46 Chromosomen hat er 47 in jeder Körperzelle, das Chromosom 21 ist dreifach statt doppelt vorhanden. Heute ist Welt-Down-Syndrom-Tag.
Tim interessiert die Definition seiner Behinderung allerdings nicht im Geringsten. „Fröhlich, freundlich und sehr offen“, so beschreibt seine Mutter, Katja Kurpjuweit, das Wesen ihres kleinen Wirbelwinds. „Er denkt nicht nach, er macht einfach.“ Alleine lassen darf sie Tim nicht. „Er braucht sehr viel Aufmerksamkeit, wir können ihn nicht einfach mal zum Spielen in den Garten schicken“, berichtet Tims Vater Thomas. „Bei ihm passt man mehr auf, man weiß ja nicht, ob er irgendwelche Dummheiten macht.“
Die Mutter arbeitet deshalb nur noch an zwei Vormittagen in der Woche an ihrem alten Arbeitsplatz, in der Buchhaltung einer Firma. „Das braucht man auch als Abwechslung“, meint die 41-Jährige.
Seit Tim geboren ist, haben sich seine Eltern und seine zwölf Jahre alte Schwester Lara darauf eingestellt, Rücksicht auf den Jungen mit Down-Syndrom zu nehmen. „Er entwickelt sich langsamer als andere Kinder, er wird alles lernen, aber es dauert ein bisschen länger“, erklärt Mutter Katja.
„Jetzt ist er vielleicht auf dem Stand eines Sechsjährigen, aber mit der Zeit wird der Abstand immer größer“, ergänzt Vater Thomas, der als Support-Techniker arbeitet. Die Eltern haben sich an die Behinderung des Kleinen gewöhnt. „In die ganze Arbeit und den Druck wächst man rein“, meint der 40-jährige Vater.
Kurz nach Tims Geburt waren sich die beiden da allerdings nicht so sicher. Denn Tims Einschränkung traf die beiden völlig unvorbereitet. „Nach der Entbindung hat ein Arzt ziemlich ruppig zu mir gesagt: ’Ich wollte Ihnen nur zeigen, dass Ihr Kind mongoloid ist. Nicht, dass Sie hinterher sagen, ich hätte es Ihnen nicht gesagt.’“ Ein Schock für den Vater. „Das hat mich wie einen Schlag getroffen. Hätte sich ein Loch aufgetan — ich hätte darin versinken wollen.“
Die Diagnose trat schnell in den Hintergrund, dringender waren Tims Herzfehler, eine Begleiterscheinung des Gen-Defekts. „Erst war er auf der Frühgeborenenstation, dann wurde er ins Kinderherzzentrum verlegt. Dort wurden drei Herzfehler operiert“, beschreibt Thomas Kurpjuweit sachlich. „Danach war Tim wie ein komplett neues Kind.“
Mit der Diagnose Down-Syndrom konnte Thomas Kurpjuweit nicht viel anfangen. „Man weiß, man kriegt einen Sohn, stellt sich vor, wie er Pilot oder Chirurg wird. Und dann erfährt man, dass er das alles nicht wird“, erzählt der 40-Jährige, der über die Behinderung nur wusste, dass „das so ein Gen-Defekt ist“. „Ich hatte alle negativen Vorurteile und dachte, dass das so merkwürdige Menschen sind“, gibt er zu.
Doch Tim hat nach und nach mit den Vorurteilen aufgeräumt, auch wenn sich als Baby der Gen-Defekt noch nicht bemerkbar gemacht hat. „Die Nickeligkeiten des Syndroms schleichen sich so langsam ein“, erzählt der Vater. Diese Nickeligkeiten zeigen sich bei Tim vor allem in der Sprache, manchmal nuschelt er, ist schwer zu verstehen. „Er ist allgemein sehr schlaff“, sagt Katja Kurpjuweit. „Wie eine Klapperschlange“, kräht Tim fröhlich dazwischen, die Brille mit den dicken Gläsern hängt schief auf seiner Nase.
Deswegen bekommt Tim an der Gerd Jansen Schule Krankengymnastik und Sprachförderung, in seiner Freizeit geht er zum Ergotherapeuten und mit seiner Mutter zum Reiten. Sonst spielt er gern Fußball oder mit Legosteinen, geht schwimmen, hört viel Musik — eben wie jedes andere Kind in seinem Alter auch.
„Unser Leben hat sich zwar verändert, aber es ist vielleicht noch schöner als vorher“, sagt Tims Mutter, die in der Lebenshilfe Mitglied ist und sich im Förderverein Morbus Down engagiert. „Wir haben neue Leute kennengelernt und jeden Fortschritt von Tim umso mehr schätzen gelernt, weil wir so dafür gekämpft haben.“ Ihr Mann stimmt ihr zu.
„Alle Widrigkeiten, die es mit sich bringt, haben sich gelohnt“, sagt Thomas Kurpjuweit, der froh ist, dass seine Frau und er erst nach Tims Geburt von seiner Behinderung erfahren haben. Denn sonst hätte das Ehepaar vor der Entscheidung gestanden, ob sie Tim überhaupt bekommen möchten. „Die Frage hätte ich mir nicht stellen lassen wollen“, sagt Thomas Kurpjuweit.
Neben ihm mümmelt Tim glücklich an einem Brötchen und verteilt dabei die Krümel über den Esstisch. „Vielleicht wäre die Welt fröhlicher, wenn mehr Leute wie Tim da wären“, meint die Mutter mit Blick auf ihren Sohn, der fröhlich vor sich hin gluckst. Wie die Welt der Familie Kurpjuweit ohne den kleinen Wirbelwind aussehen würde, das mag sich längst niemand mehr vorstellen.