Schauspieler Daniel Minetti: "Mauerfall? Hab’ ich verschlafen"
Er wuchs in der DDR auf und spielte vor 25 Jahren am Ost-Berliner Maxim-Gorki-Theater. Flucht kam für ihn nie infrage, er wollte den Wandel von innen unterstützen.
Krefeld. Im entscheidenden Moment war Daniel Minetti vor allem eines: hundemüde. Als die Menschen am 9. November 1989 über die nun offenen Grenzen nach Westberlin strömten, schlief der heute 56-Jährige. „Tagelang hatten meine Frau und ich bis tief in die Nacht Fernsehen geschaut, um alles mitzubekommen“, erinnert sich der Schauspieler des Krefelder Ensembles, der damals am Berliner Maxim-Gorki-Theater spielte. „Ausgerechnet an dem Abend hatte ich frei, und da haben wir gesagt: Wir müssen mal wieder ausschlafen.“ Zwar habe er Günther Schabowskis legendäre Pressekonferenz noch gesehen, „aber verstanden habe ich das nicht. Das war fernab meiner Vorstellungskraft“. Als er am nächsten Morgen aufwachte, war die Welt eine andere und Deutschland im Ausnahmezustand. Zehntausende Trabbis knatterten in den Westen.
Heute muss der Wahl-Krefelder über diesen aufgekratzten, intensiven Herbst lachen. „Vielleicht waren wir am Theater damals sehr naiv“, erinnert sich Minetti. Vor den Proben wird damals viel und offen über Flucht und Demonstrationen diskutiert, obwohl man weiß, dass alles über Spitzel bei der Stasi landen kann. Für Minetti kommt eine Flucht über Ungarn oder die Prager Botschaft nicht infrage. Zu Gastspielen ist er in den 80er-Jahren mehrmals im Westen gewesen, und natürlich war das Thema Flucht dabei immer präsent. „Aber zum einen war das System in Westdeutschland auch nicht das Idealbild, und zum anderen wollte ich auf Veränderungen drängen“, erklärt Minetti. Dafür trat er sogar in die SED ein — und 1987 wieder aus, nachdem er begriffen hatte, dass er nur als rebellisches Feigenblatt benutzt wurde.
Minetti hat - bis heute - Sympathien für den Sozialismus. Aber nicht für den real-existierenden in der DDR. Spätestens im Sommer 1989 wird klar, dass das System auf seinen sicheren Kollaps zusteuert. Die Drohkulisse zerbröselt: „Wir haben am Telefon einfach weitergesprochen, auch wenn es in der Leitung knackte“, spielt Minetti auf die Abhörmethoden der Stasi an.
Den Höhepunkt erreicht diese Stimmung bereits am 4. November, als eine Großdemonstration auf dem Berliner Alexanderplatz angekündigt ist. Regisseur Heiner Müller wird sprechen, auch Ex-Geheimdienstchef Markus Wolf und ein junger Schauspieler namens Jan-Josef Liefers stehen auf der Rednerliste. „In der U-Bahn lächelten sich viele wissend an. Wir wussten ohne Worte, wo die anderen hinwollten“, erinnert sich Minetti, und auch 25 Jahre später kommt das Lächeln zurück. „Wir hatten an jenem Tag das Gefühl, die Welt aus den Angeln zu heben.“ Doch schon am Abend sei wieder Ernüchterung eingekehrt.
Für den Schauspieler ist in jenen Tagen längst nicht ausgemacht, dass es mittelfristig auf eine Wiedervereinigung mit der Bundesrepublik hinausläuft. „Als sich das Neue Forum gründete und Reformen hin zu mehr Demokratie forderte, war das genau in meinem Sinne“, sagt Minetti, „auch in der Zeit der Runden Tische eröffnete sich eine Möglichkeit, dass die DDR sich selbst aus der Misere zieht.“ Viele hatten es einfach satt, dass sich die DDR als das „gute Deutschland“ darstellte und zugleich seine Bürger einsperrte und überwachte. „Diese Doppelmoral hat mich neben vielem anderen besonders gestört.“
Am Gorki-Theater spielte Minetti damals ausgerechnet das Stück „Transit Europa“ — eine Flüchtlingsgeschichte, in der es um die Frage geht: Was wird das Neue sein? „Andere Theater in der DDR haben ihre Aufführungen eingestellt, weil sie nicht mehr mit der Realität auf den Straßen übereinpassten. Bei uns war es genau umgekehrt: Wir haben auf der Bühne unseren Teil beigetragen.“
Mit den Flüchtlingsströmen, die der Ostberliner jeden Abend im West-Fernsehen sah, konnte er sich hingegen kaum identifizieren. Er wollte nicht weg, sondern Veränderung. Dennoch: „Ohne sie wäre der Druck auf das Regime nicht so groß gewesen“, sagt Minetti. Auch mit dem Begriff „Wende“ kann Minetti nichts anfangen. „Das ist ein Begriff, den Erich Honeckers Nachfolger Egon Krenz als Erster benutzt hat und damit etwas ganz anderes meinte“, begründet er. Er spricht lieber von der „Zeit nach 1989“.