Chemieprofessor Schlaf ist für den Bücherwurm nur vertane Zeit
Seit 40 Jahren sammelt Chemieprofessor Jürgen Schram historische Bücher. 15 000 bis 20 000 stapeln sich in seinem Reich.
Krefeld. Bücher sind für Jürgen Schram schon immer mehr gewesen als eine bloße Aneinanderreihung von Seiten bedruckten Papiers, die eine Botschaft vermitteln, eine Geschichte erzählen. Rein wissenschaftlich betrachtet, und darum kommt Jürgen Schram als Professor für chemische und instrumentelle Analytik nicht herum, sind Bücher letztlich eins: Chemie. „Wir denken heute nur an Pestizid und Dünger. Was ist mit Keramik, Feuer, mit Papier? Das alles ist Chemie.“
Und dann ist es doch viel mehr als die chemische Zusammensetzung, was den 57-jährigen Krefelder an Büchern so sehr fasziniert: „Mich fesseln die individuellen menschlichen Schicksale, die in jedem kleinen Buch stecken.“ Zwischen den Zeilen. Als Randbemerkungen neben den Text gekritzelt, als verschwommene Tränen, als Risse im Papier, ja, auch als klaffendes Loch — so sieht es aus, wenn sich ein Schrapnellsplitter durch den ledernen Buchdeckel und hunderte Seiten bohrt . . .
Jürgen Schrams Reich ist eine Welt voller Geschichten — und voller Geschichte. Seit mehr als 40 Jahren sammelt der Chemieprofessor aus Krefeld historische Bücher. „Autos haben die anderen gekauft. Seit ich 16 war, habe ich immer alles, was ich hatte, in Bücher gesteckt“, sagt Schram.
Für die meisten Besucher ist die Wohnung des Chemieprofessors ein Labyrinth. Bücher in den Regalen, gestapelt auf dem Boden, auch auf dem großen, massiven Holztisch, an dem Schram die Klausuren seiner Studenten korrigiert. Sonaten von Händel erfüllen dabei den Altbau mit den hohen Decken. „Es gibt hier kein Zimmer ohne Bücher“, sagt Schram. Zu zählen hat er schon lange aufgehört. Auf 15 000 bis 20 000 Exemplare schätzt Schram seine Sammlung.
Gelesen hat er alle — „zumindest reingelesen“, betont der 57-Jährige. „Das schöne an Büchern ist doch, dass man sie nachts lesen kann. Schlaf ist vertane Zeit.“ Das habe schließlich schon Napoleon gesagt. Das älteste Buch in seiner Sammlung, so vermutet Schram, ist eine theologische Handschrift von 1230, eine Aneinanderreihung von Predigten, der Großteil der Bücher stammt aber aus dem 16. und 17. Jahrhundert — eines haben fast alle Werke gemein: geschrieben sind sie auf Latein. „Das war die Sprache der Wissenschaft. Ich beiße mich da heute so durch.“
Newton und Boyle, Liebig und Plinius, ganz frühe Ausgaben alchemistischer Werke: In Jürgen Schrams Regalen verbergen sich Meilensteine der vergangenen 500 Jahre zur Geschichte der Chemie. Der schlimmste Alptraum eines jeden Sammlers — ein Feuer bricht aus und er kann nur wenige Exemplare seiner Sammlung retten — bereitet Schram zwar keine schlaflosen Nächte, die Frage beschäftigt ihn aber doch: Ein alchemistischer Text von Raimundus Lullus etwa gehört zu den Werken, die für den Chemieprofessor eine besondere Bedeutung haben: „In diesem Buch fehlen genau die paar Hundert Seiten, die damals auf den Index kamen“, erzählt Schram und blättert zu der Stelle, an der der Buchbinder damals auf Bitten des Besitzers die Seiten vorsichtig entfernt hat. „Das ist ein deutliches Zeichen für Zensur.“
Sind es in der Regel vor allem Alter, Seltenheit und Bedeutung, die ein Buch auf dem Sammlermarkt besonders wertvoll machen, hat Jürgen Schram für sich persönliche Kriterien festgelegt. „Ich sammle nicht als Werteinlage“, sagt er. „Der Reiz für mich liegt darin, ein bestimmtes Exemplar zu besitzen, von dem niemand weiß, dass etwas besonderes darin steht.“ Wie diese Predigtsammlung aus dem Jahr 1515, „ein Null-acht-fünfzehn-Werk“, das unter Sammlern wohl für wenig Interesse sorgt. Der Chemieprofessor hingegen ist sich sicher: „Es ist die erste gedruckte Erwähnung Amerikas. Das ist das Spannende an diesem Buch, macht es wertvoll für mich.“
Überhaupt: Man sucht Bücher nicht, man findet sie, sie kommen zu einem“, glaubt Schram. Und beim Lesen öffnet sich eine neue Welt, ja, ein ganzer Kosmos. So wie bei „Gullivers Reisen“, in dem Jonathan Swift den Leser in erfundene Welten entführt. Es ist eines der wenigen Bücher in seiner Sammlung, die Schram von vorne bis hinten durchgelesen hat. „Ich versuche, Swift zu durchdringen. Da steckt so viel Allgemeinbildung drin, wenn er der damaligen Gesellschaft humorvoll-kritisch auf die Finger schaut“, doziert der 57-Jährige begeistert.
Und dann ist da Umberto Eco. Der Anfang des Jahres verstorbene Philosoph und Schriftsteller beherrschte es für Schram wie kein anderer, „Historie in den Bezug zum Hier und Jetzt zu stellen.“ Ob „Der Name der Rose“ oder sein letztes Buch, „Die Nullnummer“ — „alle seine Romane sind aktuell interpretierbar“.
Nach Ecos Tod falle es ihm schwer, einen neuen Schriftsteller in die Liga seiner Lieblingsautoren aufzunehmen, gesteht Schram. Und: Auch an den Tag, „an dem ich selber zu Staub werde“, habe er das ein oder andere Mal gedacht. Was dann mit seiner historischen Sammlung passiert? „Da werde ich wohl eine Stiftung draus machen“, sagt er, schließlich besitze man solche Bücher nicht, „sie gehören zum Kulturgut“.
Für Jürgen Schram bedeutet das: „Wissen heißt sammeln — und bewahren.“