"Im Tunnel begann der Horror"
Anja Khersonska war bei der Duisburger Love Parade dabei und entkam nur knapp dem Tod, lag einige Augenblicke lang sogar auf Leichen, bis ihr Freund sie wieder hochzog. Die ehemalige WZ-Mitarbeiterin schrieb folgenden Bericht:
Alles, was wir wollten, war tanzen, Spaß haben und die Zeit miteinander genießen. Eine Gruppe von sieben Jugendlichen, alle zwischen 15 und 19 Jahre alt, die nichts im Sinn hatten, außer einen wundervollen Tag zu haben und die erste Loveparade in ihrem Leben zu erleben. Nun können wir von Glück sprechen, dass wir sie überlebt haben.
Als wir in Duisburg ankamen, herrschte schon reges Treiben, überall lachende Gesichter und leuchtende Farben, überall Vorfreude auf die Party des Jahres - und wir mittendrin, mit Energy Drinks und Plateustiefeln. Wir folgten der Anweisung eines Polizisten, bogen gleich beim Ausgang nach rechts ab und mischten uns in die feiernde Menge, die uns Händchen haltend und ausgelassen bis zum Eingang in den Tunnel trug.
Bereits da war es schon sehr eng und die ersten Betrunkenen versuchten, sich johlend durch die Menschenmasse zu drängeln, während wir uns beeilten, unsere Glasflaschen loszuwerden, während wir fast schon an den Zaun gepresst wurden - so viele Menschen wollten zum eigentlichen Festivalgelände. Nach einer kurzen und unangenehmen Wartezeit, in der der Ansturm immer größer wurde, betraten wir den Tunnel, der uns für immer in Erinnerung bleiben würde. Denn hier begann der Horror.
Mein Freund, eine sehr gute Freundin und ich wurden vom Rest der Gruppe getrennt, hielten uns eng gepresst aneinander und wurden von der Menge durch den Tunnel getragen, irgendwo zwischen nervöser Vorfreude und dem aufkeimendem Gefühl, dass da irgendetwas gewaltig nicht in Ordnung war. Der Abstand zwischen den Menschen wurde immer enger und die Dunkelheit, die die leuchtenden Farben unserer Kleidung noch greller strahlen ließ, verlieh der Szene etwas Surreales.
Dieser Eindruck wurde noch stärker, als wir wieder ins Licht traten und nichts mehr sehen konnten als Menschen, Menschen und noch mehr Menschen und eine Mauer weiter vor uns, an der schon die ersten Besucher hochzuklettern versuchten. Einen Weg zurück gab es nicht, die Masse bewegte sich nach vorne, trug uns immer weiter und als wir die abstehenden Haare einer Freundin sahen, die von vornherein mit uns unterwegs gewesen war, riefen wir ihr zu, dass wir uns zur Treppe durchkämpfen wollten, da wir mit Plateustiefeln unmöglich klettern konnten..
Ihre Wahl fiel aber auf den Masten, der rechts von uns aus der Menschenmasse ragte. "Du kannst ja die Schuhe ausziehen!" - das war das Letzte, was sie zu mir sagte, bevor sie verschwand, während wir immer weiter nach vorne getragen wurden. Meine schweißnassen Hände hielten die meiner Freunde fest umklammert, als wir die Menschen die Treppe aufsteigen sahen, auf dem Weg in die Freiheit. Dieser Anblick verlieh uns Hoffnung und wir beeilten uns. Derweil fühlten wir einen immensen Druck von hinten und Gliedmaßen überall um uns herum, während der Freiraum immer kleiner wurde und schließlich völlig ausblieb - wir waren eingequetscht in eine schreiende Meute, in der jeder nur eins im Sinn hatte: unbeschadet die Treppe hoch zu kommen.
Tatsächlich gelang dies auch etlichen, denen die Polizisten die hohen Stufen hoch halfen, während wir anderen unten blieben, mit immer stärker werdendem Luftmangel und immer kleiner werdender Hoffnung. Plötzlich kam ein gewaltiger Stoß von hinten, sodass wir Mühe hatten, uns auf den Beinen zu halten - die Hand meiner Freundin rutschte ab, ich schrie laut auf, versuchte die Leute hinter mir zur Ruhe zu bewegen, aber die Panik wurde immer größer.
Ich krallte meine Fingernägel in die Haut meines Freundes und wünschte mir, die gesamte Situation ausblenden zu können: den Schmerz, den Luftmangel, den extremen Schweißgeruch, der die ersten Menschen in den Tod begleitete. Ich wollte einfach in einen Tagtraum versinken, bis alles vorbei war. Mein Gehirn arbeitete jedoch weiter, suchte angestrengt nach einem Ausweg, nach einem bekannten Gesicht in der Menge und fand es nicht. Ich brach schließlich in schiere Verzweiflung aus, schrie und schlug um mich, bis ich zwei starke Arme auf meinem Rücken spürte. Mein Freund presste mich an sich und schrie mir liebevolle Worte ins Ohr, die ich nicht verstand, dafür aber das, was er damit sagen wollte.
Plötzlich sah ich das tränenüberströmte Gesicht meiner Freundin etwas rechts von mir. Ich ließ meinen Freund los, drehte mich mit Müh und Not um, obwohl das eigentlich kaum möglich war. Ich streckte die Hand aus und ergriff die ihre, während ein halb ohnmächtiger betrunkener Kerl auf uns zuwankte. Sie versuchte ihn zu stützen, bevor ihn einige andere Leute aus der Menge ergriffen.
In diesem Augenblick fiel mein Blick und der meiner Freunde nach unten: Was ich sah, blendete tatsächlich meinen Schmerz aus. Da lagen Menschen übereinander. Einer über dem anderen, in Reihen auf dem Boden gestapelt, wie Heringe im Fischernetz oder wie Tote in einem Massengrab und sahen mich mit ihren gequälten sterbenden Augen an. In diesem qualvollen Augenblick hatte ich plötzlich ein Bild in meinem Kopf. Ich sah meinen Freund und meine Freundin da liegen, unter den anderen begraben, und mich mit ins Nichts starrenden Augen, und fiel selbst auf den Menschenhaufen drauf und schrie.
Mein ebenfalls schreiender Freund zog mich wieder hoch und rettete mir das Leben. Da wusste ich, dass dieses Bild in meinem Kopf nie wahr werden durfte. Nie, um keinen Preis! Ich spürte förmlich das Adrenalin in meinem Blut, den Wunsch zu leben, den Wunsch, meine Freunde nicht tot zu sehen und drehte mich um. Verzweifelt blickte ich in die unendlich große Menge und schrie: "Tut mir leid!"
Ich zog meine Freunde an den Händen und machte den ersten Schritt nach hinten, auf den Tunnel zu, da, wo irgendwo in weiter Ferne der Ausgang war. Und ich ging los, immer wieder diese drei Worte schreiend. Ich blickte den Menschen direkt in die Augen, die vor Panik geweitet waren, schrie und ging weiter. Die Menschen machten Platz für uns, ein Wunder, an das zu glauben mir schwer fiel, wie das Denken an sich, denn alle Gedanken drehten sich nur noch darum, uns heil rauszubringen.
Und dann wurde die Menge plötzlich lichter, es gab Luft, es gab Platz, es gab lächelnde Gesichter - Menschen, die trotz allem in den Todeskessel hineinliefen. Ich rief ihnen zu, sagte, sie sollten umkehren, dass da Menschen sterben würden, sagte es jedem, der es hören wollte, aber sie lachten, glaubten dem rothaarigen halbnackten Mädchen nicht, das die Wahrheit sagte und dessen Freund nur noch schreien konnte, dass er weg wollte, weg von diesem schrecklichen Ort.
Meine Freundin lief auf einen Polizisten zu, der am Wegesrand stand und zusah, erzählte ihm, was da hinten passierte, aber er winkte ab, sagte, sie sollte weitergehen, er wisse es schon. Wir liefen zum Nächsten - es waren viele, die da standen und untätig zusahen, während Menschen wie Lemminge in ihr Verderben liefen - oder das der anderen. Sie lachten uns aus, starrten mir in den großen Ausschnitt meines wegrutschenden Kleids und sagten, es würde schon niemand sterben. Sie hielten diejenigen, die schon im Tunnel waren, nicht zurück, taten nichts, gar nichts und glaubten uns nicht, wir waren nur dumme Kinder für sie.
Plötzlich schrie meine Freundin nach ihrem Freund, nach ihrem Vater, nach den Menschen, die sie liebte, und wir liefen an dem gesperrten Eingang vorbei nach draußen, wo die Menschen warteten und noch nichts von dem wussten, was nur einige hundert Meter weg von ihnen geschah.
Ich merkte, das ich aufs Klo musste, hatte Hunger, mein Freund sehnte sich nach einer Zigarette - also liefen wir zu dritt in einen Lebensmittelmarkt. Schließlich warfen wir uns auf den steinigen Boden, um zu verstehen, was geschehen war und um zu spüren, dass wir noch lebten.