70 Jahre NRW Tilly: „In Nordrhein-Westfalen ging es immer zu wie im Taubenschlag“

Jacques Tilly, genialer Wagenbauer des Düsseldorfer Karnevalszuges, hat sich tief in die Geschichte des Landes eingearbeitet. Ein Gespräch über Land und Leute.

Foto: Archivfoto: Schaller

Düsseldorf. Aus Sicht des Düsseldorfer Künstlers wird sich ein Bekenntnis wie „Ich bin stolz, ein NRW-Bürger zu sein“ nie durchsetzen. Es gebe nur eine Vernunftsidentität.

Foto: Tilly

Herr Tilly, Sie haben schon zwei Kalender im Großformat mit Zeichnungen zu den Charakteristika von Nordrhein-Westfalen, seiner Geschichte, seinen Menschen, seiner Kultur, zu Wirtschaft, Brauchtum, Kunst und Politik gestaltet. Da müssen Sie tief in die Recherche zu den Eigenarten des Landes eingestiegen sein.

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Jacques Tilly: Ich habe nicht mit Historikern gearbeitet, das ist alles mehr oder weniger Marke Eigenbau, weil es ja auch eine künstlerische Interpretation des Ganzen ist. Dass da in einem der Bilder der Düsseldorfer Löwe größer wegkommt als die Kölner Tünnes und Schäl, ist meiner eigenen geografischen Lage geschuldet.

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Und dann haben Sie, der Ur-Düsseldorfer, das Land kennengelernt?

Tilly: In der Tat, bis zu den Sehenswürdigkeiten von Gladbeck oder Bottrop. Oder „Unna Festa Italiana“, einem besonderen Italienfest in Unna — das kannte ich vorher nicht.

Kennen Sie denn aus eigenem Erleben noch andere Teile von NRW intensiver?

Tilly: Ich habe in Essen Kommunikationsdesign studiert, da habe ich die Ruhrgebietsperspektive auf den Rest des Landes kennengelernt. Das Ruhrgebiet ist wirklich total anders.

Was unterscheidet den Menschenschlag dort von den Düsseldorfern?

Tilly: Beim Rheinländer ist die Kommunikationsfähigkeit extrem hoch. Das merken wir im Alltag nicht, aber wenn wir dann im Ruhrgebiet oder im Münsterland sind, dann merkt man, dass die Leute dort einfach weniger Sprechfluss entwickeln.

Ist der Rheinländer im Vorteil?

Tilly: Der Rhein hat dem Rheinländer den Anschluss an den Weltgeist gebracht. Ostwestfalen etwa war seit dem Spätmittelalter wirtschaftlich abgehängt. Das Rheinland war immer Durchzugsgebiet, hatte immer einen starken Kontakt zu Frankreich. Das bringt halt eine andere Form von Weltläufigkeit mit. Wir haben andere Wurzeln als die Westfalen. Und dann wurde beides vereint.

Vor 70 Jahren bei der „Operation Marriage“, als die Briten entschieden, die Provinz Westfalen und die Rheinprovinz zu „verheiraten“.

Tilly: Ja, das war eine Zwangsheirat, damit müssen wir jetzt leben und zurechtkommen. Es war mehr oder weniger ein historischer Betriebsunfall — der Nachkriegslage geschuldet. NRW ist ein Produkt des Kalten Krieges, die Engländer haben das ganz selbstständig entschieden, auch gegen die Russen und die Franzosen. Dabei ging es vor allem um die Frage: Was geschieht mit dem Ruhrgebiet? Die Russen wollten das gern unter internationale Kontrolle stellen, damit sie selber einen Fuß in der Tür haben, die Engländer wollten das angesichts des sich abzeichnenden Kalten Kriegs nicht. So hat sich aufgrund einer mehr oder weniger zufälligen weltpolitischen Lage das Bindestrich-Land entwickelt.

Ein Kunstprodukt?

Tilly: Ja, so etwas wie ein Bastard, niemand wollte das. Die Rheinländer haben gesagt: Was sollen wir denn mit den Ostwestfalen, den Sturköppen. Die Westfalen haben gesagt, mit den Rheinländern haben wir doch überhaupt keine Verträge. Und dann hat sich noch mit etwas Verspätung das Lipper Land dazugequetscht.

Ist der von Johannes Rau in einer Imagekampagne entwickelte und heute noch beschworene Slogan „Wir in NRW“ ein Wunschdenken?

Tilly: Es ist ein politischer Wille, dem Land tatsächlich Leben einzuhauchen — in den Köpfen der Bürger. Um das Kunstprodukt mit Emotionen aufzufüllen. Es ist halt das Bindestrich-Land. Heinz Kühn, der frühere Ministerpräsident, hat 1978 gesagt: Das ist kein Trennungsstrich, sondern ein Verbindungsstrich. Es gab viele Versuche, dem Land NRW ein Gesicht zu geben: den Staatspreis, den NRW-Tag, die NRW-Stiftung, den Landesorden. Das sind Versuche, in NRW einen Hauch von Gemeinschaftsgefühl herzustellen.

Wie in Bayern oder Hessen?

Tilly: So leicht wie die, die ihre Tradition und ihre Identität auf das Mittelalter oder noch früher zurück aufbauen können, haben wir es halt nicht. Wir waren auch immer fremdbestimmt, Preußen und Franzosen waren im Rheinland. Wir haben deshalb eine gebrochene, keine homogene Geschichte. Jetzt hat uns der Zufall halt zusammengespült, mit all den anderen Stämmen. Und die Politik muss damit leben. Der Satz ,Ich bin stolz, ein NRW-Bürger zu sein’, wird sich nicht durchsetzen. Es ist eine Vernunfts-identität.

Das klingt pessimistisch.

Tilly: Nein, gar nicht, ich denke, das funktioniert. Und es war ja auch richtig, das Ruhrgebiet zusammenzuführen. Denn ohne das Ruhrgebiet hätte es keinen Wiederaufstieg gegeben, Deutschland wäre ein Armenhaus geblieben.

Das Ruhrgebiet als Wirtschaftsmotor.

Tilly: Damals gab es den Spruch „Auf den Bergmann kommt es an.“ Und so war es ja auch das politische Ziel von Karl Arnold, dem ersten gewählten Ministerpräsidenten, Demontagen zu verhindern. Auch die Engländer wussten: Ohne Kohle läuft nichts, die Montanindustrie war das Zugpferd. Das Ruhrgebiet war unser Glück am Anfang. Und ist gleichzeitig der Fluch, ein Klotz am Bein, weil wir jetzt strukturschwache Gebiete haben.

Zu den Menschen in NRW. Da muss sich das Land doch nicht verstecken.

Tilly: Auf keinen Fall. Ich war selbst überrascht, wie viele große Namen da zusammenkommen. Von Beethoven über Wim Wenders und Pina Bausch. NRW ist wahnsinnig stark in Sachen Musik: Köln mit Bap, Brings, Höhner und Bläckföös, Düsseldorf mit den Toten Hosen, Kraftwerk und Heino. Oder die Klassiker Felix Mendelssohn-Bartholdy, Clara und Robert Schumann.

Und Lindenberg, Grönemeyer, Müller-Westernhagen . . . Hatten Sie noch weitere Erweckungserlebnisse über die Stärken des Landes, als Sie recherchiert haben?

Tilly: Ja, da ist der Humor, da sind wir ganz stark. Wie viele lustige Persönlichkeiten NRW hervorgebracht hat: Jürgen von Manger, Hape Kerkeling, Hans Dieter Hüsch, Lore Lorentz, Willi Millowitsch, Jürgen Becker. Und und und . . .

Und andere Bereiche?

Tilly: Literatur ist nicht ganz so stark. Aber wir haben Böll, Heine, von Droste-Hülshoff, Lasker-Schüler. Die bildende Kunst mit Namen wie Richter, Beuys, Lüpertz und - für mich ganz wichtig - Ralf König, den ich für den begnadetsten Comiczeichner halte. Ein Herzensanliegen sind mir auch die starken Frauen in NRW. So kommen drei der Frauen, die die Gleichberechtigung im Grundgesetz verankert haben, aus NRW: Helene Weber, Helene Wessel und Frieda Nadig.

Jacques Tilly

Große Namen sind ja etwas, vor dem Sie als Wagenbauer des Düsseldorfer Karnevalszuges berufsbedingt kaum Respekt haben. Da legen Sie sich nicht nur mit nationalen oder internationalen Figuren (Donald Trump als Gesäß mit unverwechselbarer Frisur) an, sondern auch mit NRW-Größen. Hat das auch schon mal eine weitergehende Wirkung als die, dass sich die einen amüsieren und die andere schwarz ärgern?

Tilly: Ja, da war der Wagen, den ich 2009 über den damaligen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers gemacht habe.

Sie meinen den Wagen, der Rüttgers als Skinhead zeigte, der mit einem Baseballschläger auf das Cello von Thomas Beckmann einschlägt, der sich für Obdachlosenhilfe engagiert.

Tilly: Ja, die Landesregierung hatte damals Einsparungen bei der Hilfe für Beckmanns Projekt „Gemeinsam gegen Kälte“ beschlossen. Da habe ich mir gesagt, das kann ja wohl nicht sein. Und den Wagen gemacht. Das war dem Image von Rüttgers als fürsorgendem Landesvater abträglich. Und dann wurde die Kürzung wieder zurückgenommen. Da hat ein Wagen mal nicht nur Politik kommentiert, sondern auch gemacht.

Wie hat sich NRW seit der Gründung vor 70 Jahren verändert?

Tilly: Da fällt mir die Bildungspolitik ein. Wir haben eine der stärksten Hochschullandschaften in NRW. Dafür haben sich verschiedene Landesregierungen engagiert. Das kann schon den Grundcharakter eines Landes verändern. Dass Bildung nicht kleinen Eliten vorbehalten bleibt. Dass Aufstiegschancen nicht eine Frage des Portemonnaies sind. NRW war immer schon das soziale Gewissen dieser Republik, wie schon Karl Arnold gesagt hat.

Beherrschendes Thema ist seit Monaten der Flüchtlingszuzug. Sie haben in Ihrem Kalender ein Blatt, das trägt den Titel „Einwanderungsland NRW, Zuwanderung war schon immer ein Gewinn für alle.“

Tilly: In NRW ging es immer zu wie im Taubenschlag. Migration war immer ein wichtiges Thema. Vor allem das Ruhrgebiet. Dorthin kamen Polen, Türken, die Vertriebenen, die sogenannten Gastarbeiter aus Spanien, Italien, Griechenland, später die Russlanddeutschen, dann die aktuellen Flüchtlinge. Aber auf meinem Bild sind auch die Römer zu sehen. Und die Holländer, die samstags und vor Weihnachten zum Shopping kommen.