Die andere Seite der Postkarte von Rio de Janeiro

Rio de Janeiro (dpa) - Keine 300 Meter ist die Polizeistation entfernt. Die Drogenhändler putzen ihre Gewehre und Revolver, der oberste Boss streichelt eine riesige Eidechse mit gold-schwarzem Panzer.

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Spätestens seit Pablo Escobar haben Drogenbosse ja eine Vorliebe für exotische Tiere.

Das olympische Leichtathletikstadion ist hier in Sichtweite. Willkommen im anderen Teil Rio de Janeiros. Dieser Hügel, an dem armselige Häuser dicht an dicht kleben, ist nur fünf Kilometer vom Stadion entfernt. Hier zählt man keine Medaillen, sondern die Toten. Rund 50 seit 2014. Das hat auch mit dem Comando Vermelho, dem „roten Kommando“ zu tun - und der Polizei, das es bekämpft. Mit mehreren tausend Mitgliedern kontrolliert das Kommando einen großen Teil des Drogenhandels in der 6,5-Millionen-Stadt.

Eine Bastion ist hier, im Complexo do Alemão, eine der größten und gefährlichsten Favelas der Stadt, dem „Komplex des Deutschen“. Hier landete nach dem Ersten Weltkrieg der Pole Leonard Kaczmarkiewicz. Damals war das hier noch keine Betonwüste, sondern tropische Natur. Er gründete eine Farm und heuerte billige Arbeitskräfte für den Anbau von Kaffee und Orangen an. Wegen seiner Statur, der blonden Haare und des miesen Portugiesisch wurde er nur Alemão, der Deutsche genannt. Nach und nach siedelten sich die Armen hier an, als Rio ausfranste - der „Alemão“ wurde zum Namensgeber der 100 000-Einwohner-Siedlung.

„Schießereien heute den ganzen Morgen“, schreibt eine Kontaktperson. Am Eingang der Favela gibt es an einem Obst- und Gemüsemarkt eine kleine Demonstration, eine Frau liest die Namen der Toten vor: Darunter Fernando Rocha, Marcelo Soares, Jefferson Silva. Sie wirft die Zettel in einen Sarg. Die kleine Letizia Silva Santos ist mit ihrer Mutter da, die Sechsjährige trägt ein T-Shirt, auf dem mit roter Farbe steht: „Ich will nicht sterben, ohne studiert zu haben.“

Von einem „Krieg“ spricht die Bewohnerin Rosangela Freita (54). Viele trauen sich nicht raus. „Die Polizei will die Favela wegen Olympia auf Teufel komm raus befrieden“, sagt sie. Es gebe gerade kaum einen Tag ohne Schusswechsel. Adilson Rosa da Mata, der seit 50 Jahren hier lebt und kaum Geld hat, um seine Diabetes-Behandlung zu bezahlen und acht Kinder zu ernähren, spricht von einem „hoffnungslosen Leben“.

Mit einem Motorrad-Taxi geht es schließlich in diesen Hort der Gewalt hinein, überall Einschusslöcher an den Häusern. Es geht zu Fuß in einen kleinen Seitenweg. Blick in einen Gewehrlauf, man wird unmissverständlich aufgefordert, sich „vorzustellen“. Mitglieder des Comando Vermelho empfangen mit martialischen Pumpguns, darunter ein vielleicht 13,14 Jahre alter Junge. Per Headsets ist man über die Polizeibewegungen immer gut im Bilde. Fotos sind streng verboten.

Paulo Silva (Name geändert) ist als Sicherheitsmann im Einsatz, er hat schon drei Schusswunden „eingesammelt“. Bis zu 800 Reais (220 Euro) verdient er damit im Monat. „Wir sind wie eine große Familie“, schwärmt er beim Gang durchs Viertel, ein kleines Mädchen steht an einer zerschossenen Hauswand. Diebstahl und Vergewaltigung stehen ganz oben auf dem Index. Was wäre die Folge? „Dann kommt jemand zum Gespräch vorbei.“ Und was passiert dann? „Dann bezahlt man mit dem Leben.“ Weiteres Gesetz: Wer Zigaretten oder Bier mit Homosexuellen teilt, ist raus. Diese Parallelwelt existiert seit langem in Rio.

Das Comando Vermelho wurde 1969 gegründet, die Drogenbanden bekriegen sich im Kampf um Einflusszonen untereinander - und mit der Polizei. Vor Olympia sind einige Konflikte gerade in Favelas der Nordzone eskaliert, es gibt Videos von nächtlichen Schusswechseln, die an einen Bürgerkrieg erinnern. Amnesty prangert die Gewalt der Militärpolizei in Rio massiv an, aber im Complexo do Alemão ist auch zu sehen, wie hochnervös sie sind. Viele sind Väter, immer die Hand an der Pistole, aus Streifenwagen schauen Gewehrläufe heraus, und im Complexo liegen Militärpolizisten hinter Sandsäcken verbarrikadiert.

Ein großer Teil des Problems sind die knappen Kassen. Mit dem Projekt der UPP, einer Sonderpolizei zur Befriedung von weit über 200 Favelas, wurden große Erfolge erzielt. Aber hier drohen Rückschritte, weil Geld fehlt, auch um die Befriedung zum Beispiel mit Maßnahmen wie besserer Wasser- und Stromversorgung zu flankieren. Hauptziel ist eine dauerhafte Stationierung von UPP-Einheiten, eine Kooperation mit der Bevölkerung, um Drogenbanden das Handwerk zu legen. Aber fehlende Ausrüstung und Bezahlung fördern nicht die Motivation der Polizisten.

Wegen des Geldmangels empfingen jüngst demonstrierende Polizisten Gäste am Flughafen mit einem großen Transparent, darauf der Slogan: „Willkommen in der Hölle. Wer nach Rio kommt, ist nicht sicher.“

Mit einer Geldspritze von 2,9 Milliarden Reais (800 Mio. Euro) der Zentralregierung konnte der Bundesstaat Anfang Juli unter anderem ausstehende Gehälter der Polizei bezahlen. Nach Olympia muss das Darlehen schrittweise zurückgezahlt werden - und wie werden sich die Kosten für Olympia auswirken? Viele Bürger fürchten drastische Sparmaßnahmen bei der Polizei, in schon befriedeten Favelas könnten die Drogenbanden an Macht gewinnen - und Rio wieder unsicher werden.

Mit 1202 Morden in der Stadt gab es 2015 den niedrigsten Stand seit 1991, aber zum Vergleich: In ganz Deutschland gab es letztes Jahr 296 Morde. Nach Angaben des Instituts für öffentliche Sicherheit (ISP) stieg die Zahl der Morde zuletzt wieder an, auf 2083 bis Ende Mai im Bundesstaat (Jan-Mai 2015: 1833) - für die Stadt liegen keine separaten Zahlen vor. Der Bundesstaat Rio ist fast pleite, auch weil Einnahmen aus dem Erdölgeschäft eingebrochen sind. Sicherheitschef José Mariano Beltrame wirkt zunehmend frustriert, zeitweise drohte zuletzt sogar das Geld zum Betanken der Polizei-Fahrzeuge auszugehen.

Nun schickt die Regierung zur Unterstützung während Olympia fast 40 000 Militärs. Die Bürger sind den Anblick der Männer und Frauen mit schweren Waffen gewohnt. Nach dem Lastwagen-Anschlag von Nizza werden die Maßnahmen noch einmal verschärft: mehr Kontrollpunkte, Blockaden soll es geben. Insgesamt 85 000 Sicherheitskräfte sollen Olympia schützen, 80 Kriegsflugzeuge in der Luft unterwegs sein. Zudem wurden zum Beispiel am Strand von Copacabana die Fluchtlichtanlagen fast verdoppelt, nachts ist alles erleuchtet, hier dürfte wenig passieren.

Schon bei der Fußball-WM hat Brasilien bewiesen, dass man weitgehend sichere Spiele organisieren kann. Sportler und Touristen werden von den Konflikten, der Welt jenseits der Postkartenmotive mit Zuckerhut und Cristo, wenig bis nichts mitbekommen. Die Menschen im Complexo do Alemão können Olympia hingegen kaum etwas abgewinnen, sie sind müde geworden. Und das Comando Vermelho könnte am Ende der Gewinner sein.