Sturm-Entdeckung Tim Lemperle Kölns Kampf um die eigene Zukunft
KÖLN · Sturm-Entdeckung Tim Lemperle steht für eine neue Generation beim Bundesliga-Absteiger. Das Interesse anderer Vereine ist jedoch groß.
In der an Pleiten, Pech und Pannen reichen jüngeren Geschichte des 1. FC Köln tut man sich schwer, den einen ganz besonders schlimmen Tiefpunkt herauszupicken. Die Auswahl ist zu groß.
War es die Trennung von Erfolgstrainer Steffen Baumgart, der nach dem Einzug in den Europapokal eine Ära prägen sollte und dann doch beim ersten schwereren Gegenwind im Dezember 2023 den Verein verließ? Oder die von der FIFA verhängte einjährige Transfersperre, nachdem sich die Kölner Vereinsspitze bei der Abwerbung des slowenischen Nachwuchsstürmers Jaka Cuber Potocnik derart naiv und unprofessionell angestellt hatte, dass man es bis zum heutigen Tage nicht glauben kann? Weit oben in der langen Liste der Unzulänglichkeiten und krassen Managementfehler steht auch der ablösefreie Wechsel des damals 16-jährigen Ausnahmetalents Florian Wirtz aus der FC-Jugend zur U-17 von Bayer Leverkusen im Januar 2020. Wie Kölner Medien berichteten, auch eine Folge des Desinteresses, das Sportchef Armin Veh zu jener Zeit am eigenen Nachwuchs gezeigt haben soll. Wirtz’ heutiger Marktwert: 130 Millionen Euro.
Starke Offensive,
katastrophale Defensive
Es wäre an der Sache vorbei, Tim Lemperle mit den außergewöhnlichen und bereits auf höchstem internationalen Niveau erprobten Fähigkeiten eines Florian Wirtz zu vergleichen. Aber der 22-Jährige gehört zu einer neuen, recht verheißungsvollen FC-Generation, die nach dem Abstieg und der Transfersperre erfolgreich ins kalte Wasser geworfen wurde. Vier Tore, vier Vorlagen, aktuell Topscorer der 2. Liga. Das angesehene internationale Zentrum für Sportstudien (CIES) in Frankreich zählt das Kölner Eigengewächs bereits zu den zehn besten U-23-Mittelstürmern in Europa. Aus den Fehlern im Fall Wirtz scheint der FC allerdings nicht gelernt zu haben.
Denn Lemperles Vertrag läuft am Saisonende aus, und die TSG Hoffenheim soll bereits ihr Interesse am spannenden Stürmer bei dessen Berater hinterlegt haben. Das ist die Agentur Rogon von Roger Wittmann, bekanntlich mit fast symbiotischen Verbindungen zum Kraichgau-Club. Zum Nulltarif bekommt man einen Stürmer dieser Güteklasse, der seine besten Jahre noch vor sich hat, sonst so gut wie nie.
Im Kölner Umfeld fragt man sich deshalb aus nachvollziehbaren Gründen, warum Sportchef Christian Keller es während der noch bis zum Winter anhaltenden Transfersperre nicht geschafft hat, zumindest Rohdiamanten wie Lemperle längerfristig an den Verein zu binden. Zumal auch andere Hoffnungsträger wie U-21-Nationaltorwart Jonas Urbig, Linksverteidiger Max Finkgräfe und Lemperles Sturmkollege Damion Downs (4 Tore/1 Vorlage) nur Arbeitspapiere bis zum Sommer 2026 besitzen. Diese jungen Wilden werden mittelfristig nur zu halten sein, wenn der FC zeitnah in die Bundesliga zurückkehrt.
Doch am Projekt sofortiger Wiederaufstieg mehren sich nicht erst seit dem erschütternden Auftritt beim 1:5-Debakel in Darmstadt gravierende Zweifel. Der neue Trainer Gerhard Struber hat zwar die Offensive angekurbelt bekommen – die Kölner geben mit Abstand die meisten Torschüsse der Liga ab (198) und haben bereits 21 Mal getroffen. Aber die Rheinländer sind defensiv auch maximal anfällig. Gegen den Karlsruher SC verspielte der FC auf sagenhafte Weise eine 3:0-Führung (Endstand 4:4), der aktuelle Gegentorschnitt von 2,0 pro Spiel ist viel zu viel für höhere Ambitionen. Momentan steht Köln dementsprechend auch nur auf Platz zehn des Klassements, am Freitag kommt der SC Paderborn nach Müngersdorf.
„So ein Gesicht will ich nie wieder sehen“, schimpfte Trainer Struber nach dem Fiasko in Darmstadt, während Sportchef Keller die Leistung als „desolat, bodenlos, fürchterlich und enttäuschend“ geißelte. Der FC sei „wie eine Schülermannschaft“ aufgetreten.
Struber und Keller
brauchen einen Aufwärtstrend
Es ist offensichtlich schon wieder mächtig Dampf auf dem Kessel beim rheinischen Traditionsverein. Sowohl Struber als auch Keller wissen, dass die Unruhe weiter steigen dürfte, wenn sich die Kölner bis zur Winterpause nicht stabilisieren und mindestens in Schlagdistanz zu den Aufstiegsplätzen positionieren. „Das Bewusstsein, dass eine anhaltende Negativ-Entwicklung bis Weihnachten alles in Köln in Schutt und Asche legen kann, sollte schleunigst in die Köpfe aller Beteiligten dringen“, schreibt der „Kicker“. Treffender kann man es gar nicht ausdrücken. Geht die Aufstiegschance früh dahin, droht der interne Zerfall, zumal Vorstand und Präsidium nach dem Abstieg bei vielen Fans ohnehin nur auf Bewährung weiter wirken.
Personelle Konsequenzen wären wahrscheinlich. Keller ist nach der Abstiegssaison, in der erst Baumgart ging und dann seine neue Trainerlösung Timo Schultz nicht funktionierte, schon angeschlagen. Und der Österreicher Struber, den der Sportchef aus Salzburg holte, hat aus einem für Zweitliga-Verhältnisse vielversprechenden Kader mit Hochbegabten wie Lemperle und erfahrenen Profis wie Dejan Ljubicic bisher zu wenig Punkte herausgeholt. Nur zwölf von 27 möglichen Punkten sind in einer Liga, in der fast jeder jeden schlagen kann, eine schwere Hypothek. Und doch hat der Kader das grundsätzliche Vermögen, in einer Liga noch etwas herauszuholen, in der man mit drei, vier Siegen in Folge schnell oben wieder anklopfen kann. Eigentlich muss der FC sofort wieder aufsteigen. Eine weitere Saison in der 2. Liga würde den Club um Jahre zurückwerfen – und neue Identifikationsfiguren wie Lemperle, Urbig oder Finkgräfe suchten dann sehr wahrscheinlich anderswo ihr Glück. Der 1. FC Köln spielt in dieser Saison deshalb mehr denn je auch um seine eigene Zukunft.