Brasilien zwischen Fußball-Wahn und sozialen Problemen
Rio de Janeiro (dpa) - „Es ist ein Grund für eine große Party, aber auch eine große Aufgabe, die wir nach Hause tragen“, hatte Präsident Luiz Inácio Lula da Silva gesagt, als Brasilien am 30. Oktober 2007 den WM-Zuschlag bekam.
„Eine perfekte Entscheidung“, fand damals auch Franz Beckenbauer. Nach dem Votum fiel das Land in einen Freudentaumel. Sieben Jahre später ist Ernüchterung eingetreten. Massive Verzögerungen stellen die Geduld der FIFA hart auf die Probe, und die Schlagzeilen werden oft von Protesten und Streiks bestimmt. So richtig ändern kann das wohl nur die Seleção, die den Traum vom sechsten Titel wahr machen soll.
Das Verhältnis der Brasilianer zur „Copa do Mundo“ im eigenen Land scheint gespalten. „Es ist unglaublich. Während das Fernsehen versucht zu begeistern und die Printmedien (für die WM) mehr Platz einräumen, lässt sich das Land des Fußballs, das 64 Jahre auf die Rückkehr des Turniers wartete, nicht mitreißen. ... Aber es gibt keinen Zweifel, dass das Ereignis stattfinden wird, selbst wenn davon einen Monat vorher nichts zu merken ist“, kommentierte Roberto Assaf in der Sportzeitung „Lance!“ die Stimmung.
Einerseits ist das Land des Rekordweltmeisters stolz, nach 1950 die zweite WM in Brasilien ausrichten zu können. Andererseits sind die Mängel bei der Planung, Durchführung und fristgerechten Ablieferung nicht zu übersehen. Pünktlich zum 30-Tage-Countdown legte die Zeitung „Folha de São Paulo“ den Finger in die Wunde. Vier Wochen vor der WM habe Brasilien nur rund die Hälfte der versprochenen Maßnahmen vor allem im öffentlichen Nahverkehr erfüllt, berichtete das Blatt.
In der WM-Stadt Manaus sollten eine Bahntrasse und Schnellbusspuren gebaut werden, was aufgrund von Ausschreibungsproblemen auf 2020 verschoben wurde. In Curitiba sollte eine Schnellbusverbindung vom Flughafen zur Stadt errichtet werden. Auch die wird zur WM nicht fertig. Ähnliche Verzögerungen gibt es fast in jedem WM-Spielort. Sportminister Aldo Rebelo kontert mit den Vorteilen für Brasilien. Über 3,5 Millionen Arbeitsplätze entstünden durch die WM und das Wirtschaftswachstum steige bis 2019 jährlich aufgrund der Copa um 0,4 Prozent. Zudem seien viele Projekte gar nicht wegen der WM geplant worden, sondern schon viel früher.
Solche Argumente verhallen bei den WM-Gegnern, die sich in ihrem Protest durch die gestiegenen Milliardenkosten für die Stadien bestätigt sehen und Missstände im öffentlichen Nahverkehr, dem Gesundheits- und Bildungswesen ins Feld führen. In welchem Umfang es zu Protesten kommen wird, kann keiner vorhersehen. Doch einen ersten Vorgeschmack dürfte es geben, wenn vier Wochen vor dem Anpfiff in allen zwölf Städten Protestveranstaltungen angekündigt sind.
Auch eine Streikwelle rollt im Geleitzug der WM an. In Rio sind die Busfahrer im Ausstand, selbst Diplomaten und Botschaftsangehörige streiken im Ausland für höhere Gehälter, Lehrer und Museumsangestellte drohen mit Arbeitsniederlegung und bei der Polizei ist noch ungewiss, ob und wo es zu wieder Streiks kommt. Angesichts dieses Szenarios bekommt die von Präsidentin Dilma Rousseff angekündigte „Weltmeisterschaft aller Weltmeisterschaften“ ungewollt eine doppelte Bedeutung. Der Fußball, so scheint es, ist im Vorfeld der WM fast zur Nebensache zu geraten. Das könnte sich aber ändern, wenn der Ball ab 12. Juni erstmal rollt, denn Brasiliens Fußball-Begeisterung ist ungebrochen groß - in jeder Bar flimmert Fußball im TV.
Viel hängt dann vom Team um Brasiliens Superstürmerstar Neymar ab. Der offizielle Slogan auf den Mannschaftsbus lautet: „Seid bereit! Der Hexa (WM-Titel Nr. 6) kommt!“ Sollte das wahr werden, sind zumindest am 13. Juli, dem Tag des Finales in Rios Maracanã-Stadion, alle Probleme und Proteste Nebensache.