Frankreich zwischen Trauer und Torjubel

Paris (dpa) - Mit großen Hoffnungen war Frankreich in diese Europameisterschaft gegangen. Die angeschlagene Nation sehnte sich danach, ein Stück weit ihre Unbeschwertheit zurückzugewinnen, nach dem Terrorjahr 2015 und vor dem Hintergrund tiefer gesellschaftlicher Konflikte.

Foto: dpa

Das Turnier sei auch eine Form der Antwort auf den Hass, sagte Präsident François Hollande. Doch statt der erhofften Postkarten-Bilder dominieren Ausschreitungen - und wieder einmal die Terrorgefahr. Sommermärchen ausgeträumt?

Wie angespannt das Land nach positiven Nachrichten lechzt, zeigte die Erleichterung am Morgen nach dem Eröffnungsspiel. „Frankreich atmet heute ein wenig leichter“, jubelte die Tageszeitung „Le Parisien“. Wenige Stunden später überschatteten schon die Bilder der Hooligan-Krawalle in Marseille das Fußballfest - und der terroristische Doppelmord an einem Polizistenpaar verpasste der Fußballfreude einen weiteren Dämpfer.

Dieser Anschlag habe eine neue Qualität und deswegen viele ihrer Freunde erschüttert, erzählt eine Pariserin. Es gehe nicht um einen Polizisten und seine Frau, die auch bei der Polizei arbeite. Es gehe um eine Familie, einen Vater, eine Mutter - und die Tat bei ihnen zu Hause. Die Zeitung „Libération“ sprach vom „Nachbarschafts-Dschihad“: Nach Arbeitsplatz („Charlie Hebdo“) und Freizeit (Bars und Musikclub am 13. November) kommt der Terrorismus nun in die eigenen vier Wände.

„Die Stimmung im Land ist schwer und düster. Bürger sind so erschöpft und demoralisiert wie ihre Polizei“, meint die Essayistin Agnès Poirier im „Guardian“. Frankreich habe seine joie de vivre (Lebensfreude) verloren. „Es scheint, als ob die Fußball-Europameisterschaft unsere existenzielle Malaise in den Vordergrund bringt und unsere Ängste kristallisiert.“

Die vergangenen Monate waren wahrlich kein Zuckerschlecken für das Land. Die Terroranschläge des vergangenen Jahres mit ihren 149 Todesopfern, die anhaltenden Streiks, Gewalt zwischen Demonstranten und Polizei, schwere Überschwemmungen. Manch einer fühlte sich an die biblischen zehn Plagen erinnert: „Was kommt als nächstes? Eine Frosch-Plage?“, fragte der britische „Independent“.

Nun ist das aber auch nicht die ganze Realität. Zum einen drohten die Arbeitskämpfe der vergangenen Wochen trotz teils ruppiger Methoden nie wirklich zum Stillstand zu führen - dafür war die Mobilisierung aufseiten der reformkritischen Gewerkschaften viel zu gering.

Und in der ersten EM-Woche haben Hunderttausende Fußballfans fernab der Krawalle auch eine fröhliche, ungestörte Party erlebt. Auf der Pariser Fanmeile zeigen sich Besucher begeistert über das malerische Setting im Schatten des Eiffelturms, feiern ein friedliches Fußballfest.

Die wegen der Terrorgefahr lange umstrittenen Fanzonen hätten bislang ihre Mission perfekt erfüllt, schreibt der Sportchef der Zeitung „Le Figaro“, Martin Couturié. An den Spieltagen herrsche auf dem Marsfeld am Eiffelturm Stimmung, die mit der in den Stadien rivalisiere. Und auch anderswo gibt es sie, die EM-Atmosphäre - auch wenn die Franzosen zurückhaltender sind als die deutlich fußballverrückteren Deutschen bei ihrer WM 2006, was sich nicht nur am völligen Fehlen von Autofähnchen äußert.

Szenen aus Paris: Im Kiez Biergarten, einer deutschen Bar im Norden der Hauptstadt, singen die Fans beim Spiel der DFB-Elf am Donnerstag „Auf geht's Deutschland schießt ein Tor“. Nach dem erlösenden Last-Minute-Sieg der Franzosen gegen Albanien springen in einer Nebenstraße nahe der Oper plötzlich Franzosen aus einer Bar auf die Straße, donnern die Marseillaise, tanzen (bevor sie nach fünf Minuten Jubel gesittet nach Hause gehen, wie man das in Frankreich nunmal so macht).

In den Pariser Szenevierteln im Osten der Stadt - nach den Anschlägen vom November gerade hier noch nachhaltig erschüttert - sind die Trottoirs je nach Frühsommertemperatur allabendlich gefüllt. Zwischen Drink und Zigarette geht es wie üblich um alle aktuellen Themen, was derzeit die EM und den jüngsten Anschlag einschließt. Vor der „Bar du Cirque“ am Winterzirkus haben sie dafür zwei Leinen mit den Flaggen der EM-Länder über die Straße zum nächsten Baum gespannt. Wer die Spiele sehen will, muss reingehen. Public Viewing vor den Kneipen ist aus Sicherheitsgründen untersagt.

Vielleicht waren die Erwartungen auch etwas überzogen, ein tief verunsichertes Land kann schwer von jetzt auf gleich den Schalter umlegen. Und in Paris wird immer wieder daran erinnert, dass auch bei der Heim-WM 1998 zunächst wenig Begeisterung zu spüren gewesen sei. Noch ist Zeit für einen EM-Effekt - doch erstmal schwankt das Land zwischen Trauer und Torjubel. Am Freitag spricht Präsident Hollande vor den mit Fahnen bedeckten Särgen der beiden jüngsten Terror-Opfer. Sie seien für ihre Idee von Frankreich gestorben, sagt er. Auch die sprichwörtliche schönste Nebensache der Welt rückt da in den Hintergrund.