„In die Geschichte eingehen“: Waliser sind heiß auf England

London (dpa) - Der Stolz der Waliser über den gelungenen ersten EM-Auftritt ist nichts gegen die Vorfreude auf Spiel Nummer zwei. Denn das Duell gegen die Engländer am Donnerstag ist in der Heimat des Debütanten die Partie, der die Fußballfans seit Monaten am meisten entgegenfiebern.

Foto: dpa

„Wir könnten uns damit abfinden, von Russland und sogar der Slowakei verdroschen zu werden“, fasste es der walisische Aktivist Mike Parker kurz vor dem Start der Europameisterschaft zusammen. „Aber ein Sieg - egal, was für einer - gegen England würde auf der Stelle in die Geschichte eingehen.“

Wales-Superstar Gareth Bale hat bereits erklärt, was so manche Landsleute denken: Die Waliser hätten einfach mehr Leidenschaft - und seien nicht wie die Engländer, „die sich erstmal aufblasen, bevor sie irgendwas gemacht haben“. Auch wenn Trainer Chris Coleman seinen Star in Schutz nahm, ist das Spiel in Lens keine gewöhnliche Partie.

Schließlich hat Wales zum Auftakt sogar gegen die Slowakei gewonnen und führt die Gruppe B an. Aber das ist nichts gegen die Aussicht, den großen Nachbarn zu schlagen. „Mit einem umkämpften 0:0 wären wir wahrscheinlich auch zufrieden“, sagt der leidenschaftliche Fan Parker, der Schriftsteller und walisischer Nationalist ist.

Parker wurde zwar nicht in Wales geboren, sondern hinter der Grenze in England. Im kleinen Nachbarstaat hat er aber eine Heimat gefunden. Bei den britischen Unterhauswahlen im vergangenen Jahr trat er als Kandidat der walisisch-nationalen Partei Plaid Cymru an. Er wünscht sich nicht weniger als die Unabhängigkeit von Großbritannien - ein vergebliches Begehren. Ein Referendum wie in Schottland vor zwei Jahren erscheint vielen auf der Insel noch unwahrscheinlicher, als dass Wales-Kapitän Ashley Williams den EM-Pokal in die Höhe reckt.

Denn viele Waliser haben gar kein so großes Problem mit den Engländern - auch wenn sie diese natürlich gern einmal im Fußball schlagen würden. Vor der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland gaben in einer Umfrage immerhin 85 Prozent von ihnen an, England in einem möglichen Finale gegen den Gastgeber anfeuern zu wollen.

„Warum kann oder will Wales dem Weg nicht folgen, den Schottland so mutig beschritten hat“, fragt Parker angesichts dieser Werte. „Es ist das Stockholm-Syndrom“, antwortet er selbst mit Blick auf das psychologische Phänomen, bei dem Geiseln mit der Zeit emotionale Bindungen zu ihren Peinigern entwickeln.

Wales ist die einzige offiziell bilinguale Nation im Vereinigten Königreich. Allerdings sprechen nur etwa 20 Prozent der rund drei Millionen Waliser die eigene Sprache mit den seltsam anmutenden Buchstabenkombinationen, die in England immer wieder verspottet wird, weil Ungeübte die vielen aufeinanderfolgenden Konsonanten kaum richtig aussprechen können.

Llywelyn Ab Eleri, der in Wales geboren wurde und nun in Deutschland lebt, hat die Sprache als junger Mann in Japan erlernt. „Ich habe entschieden, Walisisch gründlich zu lernen, damit ich mich als Waliser vollkommen fühlen kann“, erklärt er und zitiert ein altes walisisches Sprichwort: „Cenedl Heb Iaith, Cenedl Heb Galon.“ - „Eine Nation ohne eigene Sprache ist eine Nation ohne Herz.“

Ein Sieg für die Mannschaft gegen England - der erste seit 32 Jahren - wäre für ihn die Erfüllung eines Traumes. Denn es sei einfach ekelhaft, wie die Engländer die Waliser seit 800 Jahren behandeln, meint Ab Eleri. Doch so extrem sehen das nur wenige seiner Landsleute. Seitdem das Land 1283 vom englischen König Edward I. erobert wurde, hat es sich über die Jahrhunderte sehr gut ins englische Rechts- und Verwaltungssystem eingefügt.

Abgesehen von einigen Rebellionen vor gut 600 Jahren gab es keine größeren kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen England und Wales. Viel blutiger ging es früher zwischen Schotten und Engländern zu, was wohl die größeren Spannungen zwischen beiden erklärt.

Sportliche Rivalität ja, Feindschaft nein - so lässt sich das Verhältnis zwischen Wales und England beschreiben. So wurde im nordenglischen Oldham die „Wales Street“ für die Dauer der EM in „England Street“ umbenannt. Chris Farrand, einziger walisischer Bewohner der Straße, findet das aber nicht schlimm. „Wir sind hier alle Patrioten“, erklärt er der BBC. „Alle bringen sich in Stimmung. Jedes Haus macht mit, und es gibt hier keinen, der Nein sagt.“

Selbst Nationalpolitiker Parker hält sich mit Kampfansagen vor dem Nachbarschaftsduell zurück: „Wir haben unser erstes großes Turnier seit 58 Jahren erreicht“, sagt er mit Blick auf die einzige WM-Teilnahme der Waliser 1958. „Alles andere ist Zugabe.“